Gespräch mit Corinna Glaus
Die Frau, die Karrieren macht
Corinna Glaus ist die bekannteste Casterin der Deutschschweiz. Wer in ihrer Datei vorkommt, kann gross rauskommen – in Arthouse- oder in Blockbuster-Filmen. Doch was genau macht eine Casterin eigentlich? Wir haben sie in ihrem Büro in Zürich besucht.
Zürich, 06.07.2023
Beim Drehen eines Films gehen Regie und Schauspiel zusammen auf einen Trip. «Als Casterin bin ich die ‹Matchmakerin› zwischen beiden», sagt Corinna Glaus. Sie überlegt sich also, wer auf die Rolle passt, «wer mit wem funktioniert». Am Casting-Tag präsentiert sie der Regie zwei, drei Kandidat:innen. Dabei sei das wichtigste, dass Regie und Spieler:innen einander vertrauen. Nur dann könnten sich die Spielenden in ihrer Rolle fallenlassen und wirklich Glanzleistungen zeigen.
Die Arbeit der Casterin ist «eine sensible Sache». Diesen Ausdruck benutzt Corinna Glaus im Gespräch immer wieder; er zeigt, wie wichtig Fingerspitzengefühl ist, wie behutsam, sensibel sie agieren muss. Auch ihr Büro in Zürich-Hottingen ist zurückhaltend eingerichtet, mit wenigen, klaren Möbeln und Holzfussboden. Hingen nicht ein paar Scheinwerfer an der Decke, ahnte man kaum, dass hier für den Film gearbeitet wird.
Auch Casterinnen verbringen viel Zeit vor dem Computer, vor allem, um ihre Datenbank zu pflegen. Schliesslich ist gerade die deutschschweizer Filmszene klein – und die Gefahr gross, dass das Publikum immer den gleichen Gesichtern begegnet.
«Viele können sehr gut spielen, aber das Charisma, das eine Hauptrolle verlangt, haben nur wenige»,
sagt Glaus.
Die Hauptrollen sind am wichtigsten. Aber bei der Besetzung der grösseren Nebenrollen, «die die Welt erzählen, in der die Geschichte spielt», hat die Casterin mehr Freiheiten. Da trauen sich auch Regie und Produzenten, unbekannteren Akteur:innen eine Chance zu geben. Viele kleinere Rollen werden direkt ab Casting besetzt.
Die Filmmacher:innen vertrauen Glaus, sie kennt die Bedürfnisse und Zwänge der Branche, sie ist schon über 25 Jahre im Metier, hat schon so viele Filme besetzt, Arthouse-Streifen genauso wie internationale Blockbuster, «eine spannende Bandbreite». In jüngster Zeit etwa die SRF-Serie «Die Beschatter», die Serie «Neumatt», die Schweizer Folgen von «Tatort» oder Filme wie Dani Levys «Der Scheich», Roman Polanskys «The Palace», Michael Steiners «Early Birds» oder etwas Giorgio Dirittis «Lubo».
Zentral ist die Datenbank
Um immer wieder neue Perlen zu finden, verbringt die Casterin viel Zeit damit, ihre Datenbank auf dem Laufenden zu halten, in der sich über die Jahrzehnte alles angesammelt hat, was Rang und Namen hat oder bekommen möchte. Täglich geht sie bis zu 50 Bewerbungs-Mails durch, hält Kontakt mit Schauspielschulen, trifft Spieler:innen, geht ins Theater und schaut Filme, um Kandidat:innen ausfindig zu machen.
Doch gibt es noch immer viele Nachwuchs-Künstlerinnen, die den Castingprozess nicht kennen und kein Infomaterial einsenden: keine aussagekräftigen Fotos, keine Filme, keine Videos. Um unbekannte Gesichter zu finden, hat sie den Wettbewerb «Junge Talente» ausgeschrieben und ihn 2019 – «nach zehn Ausgaben in 13 Jahren, 40 Szenen mit 75 Talenten» –, wie es auf der Website heisst, eingestellt. Hier das best-Of-Video aus dem Jahr 2016:
Wer den Nachfolge-Wettbewerb «Jung & Gut» gewinnt, bekommt ein «Casting-Package». Das bietet die Agentur auch individuell an, um Anfänger:innen zu helfen, mit professionellen Unterlagen für sich zu werben.
Für manche Filme werden Kinder gecastet: Zwar melden sich viele Jugendliche oder ihre Eltern selbstständig über das Bewerbungsportal der Agentur, aber Glaus hält auch Kontakt zu Kinder- und Jugendtheatern oder spricht gezielt Theaterpädagogen an, wenn sie ein konkretes Projekt und einen Rollenbeschrieb hat.
Das richtige Gespräch zum richtigen Zeitpunkt
Der Job der Casterin ist früh im Filmmach-Prozess angesiedelt, wenn das Drehbuch, ohnehin ein «Work in Progress», noch in einem frühen Stadium ist. Es kann passieren, dass die Casterin jemanden vorschlägt, sich das Drehbuch danach aber noch so ändert, dass andere besser gepasst hätten; unter Umständen beginnt der Prozess dann wieder von vorne.
Mit guten Drehbüchern können auch mal namhafte Spieler:innen für Low-Budget-Produktionen begeistert werden. «Aber je schlechter oder unfertiger das Drehbuch, umso schwerer ist es, eine Besetzung zu finden.»
Dazu kommen die Zwänge der Produktionsbedingungen. Schon manche Besetzung wurde verworfen, weil es einfach kein Geld gab für die Wunschkandidatin. Und auch Produzenten, Geldgeber und Koproduktionspartner haben oft Wünsche an sie. Auch im Filmbusiness verderben viele Köche den Brei.
Meistens spricht Glaus mit den Schauspieler:innen, noch bevor die Regisseure sie kontaktieren. «Die sind oft sehr mitteilungsbedürftig», sagt Glaus lächelnd. Es gehört also auch zum Können einer Casterin, das richtige Gespräch zum richtigen Zeitpunkt zu führen. Auch das ist «eine diffizile Sache».
«Hoffentlich funkt es heute!»
Der Casting-Tag selbst ist stressig, spannend und oft schmerzhaft für alle Beteiligten, «wie alle kreativen Prozesse», sagt Glaus. Für die Spieler:innen, weil sich entscheidet, ob sie die Rolle bekommen. Und für die Regisseur:innen, weil sie wissen, dass die Besetzung Match entscheidend ist. «Sie denken vor jedem Casting-Tag: Hoffentlich funkt es heute!» Und sie wissen, dass es Jahre dauern kann, bis sie wieder ein Projekt finanziert und realisiert bekommen.
Stressig ist der Tag auch für die Casterin, auch wenn Glaus das nicht erwähnt. Sie erlebt, ob ihre Überlegungen aufgehen, die Chemie stimmt, ob die Person die Rolle bekommt, die sie am besten verkörpern kann.
«Ich vergleiche ein Casting oft mit der Pubertät»
sagt Glaus. «Es ist ein wichtiger Entwicklungsschritt in der Entstehung des Films, es kann etwas ganz Neues aufgehen.» Wenn ein, zwei Szenen gespielt werden, dann zeige sich, ob die Vorstellungen von Regie und Drehbuch realistisch sind. Mitunter gerate das ganze Gerüst ins Wanken, dann müssen im gemeinsamen kreativen Prozess die Rollen umgeschrieben, die Figuren neu gebaut werden. Oder alle haben Glück, und die Reise von Regie und Schauspiel kann geplant werden.
Learning by doing
Bevor sie 1997 ihr Castingbüro eröffnete, arbeitete Glaus, 1957 in Zürich geboren, als Regieassistentin an schweizerischen und deutschen Stadttheatern und für Schweizer Filme. Sie hatte ein dramaturgisches Verständnis und kannte die Arbeit der Regie mit Schauspieler:innen, beides hilft ihr heute.
Bis dahin suchte mal ein Produzent, mal die Regie, mal «irgendwer» die Spieler:innen aus. Sie lernte nach dem Prinzip «learning by doing», eine Ausbildung gibt es bis heute nicht, «nirgendwo auf der Welt». Heute ist Glaus bestens vernetzt, Mitglied in der Schweizer und der Europäischen Filmakademie, sogar in der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences; sie gehört also zu den Erlauchten, die über die Vergabe der Oscars bestimmen.
Trotzdem, sagt sie, kann sie sich kein Gehalt auszahlen, das im Verhältnis steht zu ihrem Können und dem Aufwand, den sie betreibt. Das sei wohl ein Grund, warum es bisher kaum Männer in der Branche gebe. Andere Gründe könnten sein: begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten und immer noch geringe Wertschätzung. Bis vor kurzem seien die Caster im Abspann zuweilen schlicht vergessen gegangen.
Die Reise geht weiter
Vor zwei Jahren hat sich Glaus mit Nora Leibundgut, ihrer ehemaligen Assistentin, zu «Glaus&Gut Casting» zusammengetan. Um ihr Wissen weiterzugeben, die Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen und ihr Castingbüro weiterleben zu lassen. Nun versuchen sie gemeinsam, als «Matchmakerinnen» zu arbeiten und unbekannte Gesichter zu finden. Wenn das Casting gut läuft, wird eine Schauspieler:in den Vertrag mit der Filmfirma unterschreiben. In diesem Moment hat Corinna Glaus ihre Arbeit getan. Jetzt müssen die Menschen, die sie zusammengebracht hat, ihre Reise ohne sie weiterführen.