Corin Curschellas blickt mit einer CD-Box und einer Konzertreihe zurück auf 50 Jahre Bühnenpräsenz.

Corin Curschellas blickt mit einer CD-Box und einer Konzertreihe zurück auf 50 Jahre Bühnenpräsenz.

Bild: Momir Cavic

Zu Besuch bei Corin Curschellas

«Es gibt heute einen Überfluss von hell scheinender Leere»

Die Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin Corin Curschellas steht seit 50 Jahren auf der Bühne. Bei einem Besuch in ihrem Atelier in den Bündner Bergen spricht sie über ihre Karriere, politische Haltung und Dichtestress in der Musikszene.

Von Mathias Balzer

Chur, 30.03.2023

10 min

Corin Curschellas hat die Gabe, auch ernste Dinge mit Schalk zu formulieren. Wir sitzen in ihrem Atelier im bündnerischen Rueun und sie sagt: «Was sich in den letzten Jahrzehnten wirklich verändert hat, ist das Kopieren. Schon Walther Benjamin schrieb ja über die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, den Verlust der Aura.»

Der Sprung ins Digitale habe zu einer Explosion des Ganzen geführt. «Heute ist alles der Klon von irgendwas. Alles multipliziert sich ins Unendliche, während das Original immer mehr an Bedeutung verliert. So gibt es heute einen Überfluss von Bedeutungslosem, von hell scheinender Leere.»

Wir sitzen in der alten Turnhalle des ausgedienten Schulhauses in Rueun an der Strecke von Ilanz nach Trun. Der quadratische, hohe Raum mit grossen Fenstern und einer kleinen Theaterbühne ist geschichtsträchtig. Die Pokalvitrine zeugt von vergangenem Vereinsleben. Hier wurde geturnt, Laientheater gespielt, Marschmusik geblasen. Als Corin Curschellas die Räumlichkeit 2018 übernahm, kamen fast Hundert Leute an die Eröffnung und erzählten aus ihren Erinnerungen.

Das Atelier der Künstlerin im ehemaligen Schulhaus des Bergdorfs Rueun, Graubünden.

Das Atelier der Künstlerin im ehemaligen Schulhaus des Bergdorfs Rueun, Graubünden.

Bild: Mathias Balzer

Sie hat den leer stehenden Saal gemietet und zu ihrem Studio, Probelokal, Malatelier und einem Aufführungsort gemacht, der gleichzeitig von der Gemeinde genutzt werden kann, beispielsweise für das Dienstagnachmittags-Café, mit dem eine Gruppe Frauen versucht, die fehlende Dorfbeiz wenigstens etwas zu ersetzen.

Das Ende der «romanischen Phase»

2009 ist Curschellas mit ihrem Partner, dem Skulpteur Linard Nicolay, von Zürich nach Rueun gezogen, ins ehemalige Ferienhaus ihrer Kindheit. Von hier aus hat sie sich die letzten zehn Jahre einem Grossprojekt gewidmet, der Aufarbeitung und Neuinterpretation romanischen Liedguts. Mit Musiker:innen wie Vera Kappeler, Peter Conradin Zumthor, Astrid Alexandre, Anna Trauffer, Markus Flückiger oder den Fränzlis da Tschlin hat sie auf insgesamt sechs Alben rund 200 Lieder neu interpretiert und dazu drei Bücher herausgegeben.

«Meine romanische Phase», sagt die 67-Jährige lachend. Diese sei jetzt abgeschlossen. Romanische Lieder sind zwar nach wie vor in ihrem Repertoire, aber im Grunde ist ein neuer Abschnitt in ihrem Werk angebrochen. Die Sängerin, Schauspielerin und Mulitiinstrumentalistin richtet nun den Blick zurück auf ihr eigenes Schaffen.

Bevor sie hier in den Bergen sesshaft wurde, erzählte so manches Curschellas-Porträt die Geschichte der tourenden Pop- und Jazzsängerin, die aus dem Koffer lebt. Zürich, Berlin, Paris, London, New York als Stationen. Zusammenarbeiten mit Regisseuren wie Christoph Marthaler und Robert Wilson. Kooperationen mit Musikern wie Max Lässer, Andreas Vollenweider, George Gruntz, Marc Ribot oder Michael von der Heide, dessen Hit «Jeudi d’amour» sie geschrieben hat.

Corin Curschellas und das Vienna Art Orchestra 2009 in Wien, während der Proben zum Projekt «Third Dream».

Corin Curschellas und das Vienna Art Orchestra 2009 in Wien, während der Proben zum Projekt «Third Dream».

Bild: Wolfgang Grossebner und Oliver Kunz

Zwischen 1990 und 2010 hat die vielseitige Musikerin zahlreiche Alben mit eigenen Songs veröffentlicht und war damit auf Tour. Nun hat sie die 4-CD-Box «Collecziuns: Her Songs 1990–2010+2022» herausgegeben. Matthias Rüegg, Spiritus Rector des Vienna Art Orchestras und alter Weggefährte, hat rund 60 Songs für die vier Alben zusammengestellt. (siehe Box).

Songs als Gebrauchtware auf Riccardo…

Das Projekt sei natürlich auch ein Kampf gegen das Vergessen, erzählt Curschellas während sie einen Tee zubereitet. «Es geht so schnell, und alles ist weg. Meine CD’s aus diesen Jahren sind vergriffen, manche findest Du noch auf «Riccardo» oder auf Flohmärkten – Gebrauchtware sozusagen. Und es gibt aus diesen Jahren auch kaum Filmaufnahmen, während heute jeder Gig in einem Video festgehalten wird.»

Natürlich seien einzelne Songs auf Spotify und Co abrufbar. «Aber das ist doch etwas ganz anderes als die kuratierte Reihenfolge auf einem Album», sagt sie. Auf die Frage, warum sie denn eine CD-Box produziere, wo doch kaum mehr jemand einen Player hat, antwortet sie: «Da bin ich mir gar nicht so sicher. Schliesslich sind wir Alten ja viele!».

Schon wieder dieser Schalk, denn gleichzeitig ist ihr klar, dass ihre Generation in Pension geht, und auch die einst über Jahre gepflegten Netzwerke langsam aber sicher löchrig werden, weil die Weggefährten nicht mehr an den Schalthebeln des Musikbetriebs sitzen. «Da staunst Du dann schon, wenn die junge Veranstalterin in einem alten Club, wo Du schon oft gespielt hast, nachfragt: Corin … wie genau bitte?»

Curschellas 1987 in Berlin.

Corin Curschellas 1987 in Berlin.

Bild: Uwe Arens

Ganz spurlos geht das nicht an ihr vorbei. «Ich denk dann ‹who are you to dare›, wie kannst du es wagen, du, die du gerade mal die ZhdK abgeschlossen hast, bestimmst jetzt, wer hier auftreten darf?!» Und wieder lacht sie und meint: Keine Angst, zur frustrieten alten Künstlerin werde sie nicht. Der Dichtestress nehme eben nicht nur am Zürcher HB zu, sondern auch in der Musikwelt, wo alleine in der Schweiz jährlich Dutzende Talente von den Hochschulen auf den Markt gespült werden.

… und im Radio

Diese Inflation hat in ihren Augen auch Folgen. «Musik ist zur Gebrauchsware geworden, auch bei den meisten Radiostationen. Wer geht denn noch an ein Konzert, weil er es wirklich braucht, weil es wichtig ist? Mittlerweile läuft vor jedem Konzert Konserve, während dem Konzert unterhalten sich die Leute miteinander, und kaum ist der letzte Applaus verklungen, läuft schon wieder Konserve.»

Für sie seien Konzerte noch prägende Erlebnisse gewesen: «Endlich sieht und hört man die Künstlerin, die man nur von der Platte kennt, live.»

Ob diese abflachende Begeisterung auch mit den neuen Medien zusammenhänge? Schliesslich sind heute alle auf allen Kanälen sichtbar.

Nach kurzem Überlegen sagt sie: «Ich habe nichts gegen Musikvideos. Sie sind wunderbar. Aber das Hören ohne Bilder ist eben schon etwas anderes, da es einen eigenen inneren Film produziert.»

«Aus mir kann man keinen Hipe machen»

Angesprochen auf den Verlauf Ihrer Karriere, sagte mir Curschellas vor ein paar Jahren: «Natürlich gab es die Hitmaschinerie schon vor 40 Jahren. Diese Produzenten nannten mich ‹Nischenprodukt›. Eine ziemliche Beleidigung damals. Das bedeutete: Du bist zu wenig formbar, zu wenig aufdrapiert, auf dich setzt keiner, mit dir kann man kein Geld verdienen.»

Heute sagt sie, sie sei eben nie vollkommen angesagt gewesen. «Aus meiner Kunst ist es schwierig, einen Hipe zu machen.»

Corin Curschellas bei Peter Scherer im Kingsound-Studio, 1996.

Corin Curschellas bei Peter Scherer im Kingsound-Studio, 1996.

Bild: Daniel Infanger

Trotzdem hat sie ihr Leben lang von der Musik gelebt, anders als viele Kolleg:innen kaum unterrichtet oder andere Jobs gemacht. «Mit allen Konsequenzen: Keine Kinder, kein Auto, keine Eigentumswohnung oder so etwas. Es ging gut, wenn man bereit war, auf einiges zu verzichten.»

Wir waren Hippies

Auch sei ihre Generation in Sachen materieller Sicherheit anders gepolt gewesen als die heutige. «Wir waren Hippies, Welterneuerer, hinter dem Ganzen stand eine politische Haltung: Nicht einsteigen ins System, anders denken, zusammen etwas Neues versuchen, in der Gegenwart leben, morgen ist morgen.»

Und Curschellas ist immer noch überzeugt, dass dies die richtige Haltung war: «Jetzt sehen wir ja alle, wie sich die Schlinge um uns zusammenzieht. Schau mal den Rhein an, dieses traurige Rinnsal, so was hab ich noch nie gesehen. Und in Basel sollen irgendwann die Schiffe noch fahren. Wir haben es immer gesagt, man hat es gewusst, dass es so kommt. Aber niemand wollte zuhören.»

«Es hat knapp gereicht»

Mit Blick auf viele ihrer jüngeren Mitmusiker:innen stellt sie fest, dass diese heute anders auf die Unsicherheiten des Musikgeschäfts reagieren. «Die meisten wollen einen Brotjob und sagen mir: ‹Ich hätte nicht den Mut, das zu machen, was du getan hast. Ich würde diese Unsicherheit, von Monat zu Monat zu leben, nicht aushalten›.»

Diesen Weg zu gehen, bedeutet auch, ein gutes Händchen für Fördergelder zu haben, inklusive Abwicklung der ganzen damit verbundenen Bürokratie. «Musikförderung war wichtig. Kein Land hat solche Stipendienstrukturen wie wir. Ich habe der Kulturförderung des Kantons Graubünden, der Stadt Chur und einigen Stiftungen viel zu verdanken. Es soll aber niemand meinen, ich hätte ein Leben in Saus und Braus geführt. Es hat grad knapp gereicht.»

Corin Curschellas trägt die Konsequenzen dieser Haltung bis heute. Sie erhält mit 1100 Franken pro Monat weniger als das Minimum der AHV, und hat dazu noch eine kleine Suisa-Rente. «Aber es reicht», sagt sie und deutet mit ausgebreiteten Armen auf ihr Atelier, das von der Nachmittagssonne durchflutet wird. «Eigentlich lebe ich ja wie eine Königin.»

Nun fährt die Musikerin aber erstmals nach Paris, um für die Konzerte zur Jubiläumstour zu proben. Seit langer Zeit wendet sie sich wieder Liedern zu, die bis zu 30 Jahre alt sind, und interpretiert diese neu: «Das wird noch speziell. Es wird ja nicht mehr so tönen wie damals.» Sie lacht.


Konzerte von Corin Curschellas & The Recyclers Reloaded

13. Mai   
Vernissage der Jubiläums Retrospektive Box Colleziuns «Her Songs 1990-2010 + 2022» am Schaffhauser Jazzfestival, Schaffhausen. www.jazzfestival.ch

14. Juni   
Moods Jazzclub, Zürich. www.moods.ch

08. Juli
Natural Soaund Open Air, Kiental. www.naturalsound.ch

30. Juli
Churer Sommer / Schlossgarten Haldenstein

      

«Collecziuns: Her Songs 1990–2010+2022» im FRIDA Magazin

«Collecziuns: Her Songs 1990–2010+2022»

Die Auswahl der Stücke für die am 31. März 2023 erschienene CD-Box hat Mathias Rüegg getroffen, der Spiritus Rector des Vienna Art Orchestra, in dem Corin Curschellas jahrelang als Solosängerin wirkte.

Unter den 60 Stücken befinden sich auch einige unveröffentlichte Solostücke und Gedichtvertonungen aus dem Jahr 2022 sowie vier für Corin Curschellas komponierte Werke mit dem Vienna Art Orchestra.

Zu den vier CDs gehört auch ein Buch mit sämtlichen Songtexten und Essays von Musikerkolleg:innen.

Corin Curschellas: «Collecziuns: HER SONGS 1990–2010+2022».
Label Tourbo Music.