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«Dämonen» (Regie Boris Nikitin, Sebastian Nübling) wurde vom Nachtkritik-Theatertreffen zu den zehn besten Inszenierungen der Saison gekürt.

Bild: Ingo Höhn

Boris Nikitin

Auftreten, bekennen – und die Welt verändern

Der Schweizer Regisseur, Autor und Performer Boris Niktin schafft seit Jahren kontinuierlich eine ganz eigene Theaterwelt, die um den Begriff des Coming-outs kreist. Sein Stück «Dämonen» wurde für das Berliner Theatertreffen 2023 nominiert, und auch Nachtkritik.de zählt die Inszenierung des Jungen Theater Basel zu den zehn besten der Saison. Demnächst ist Nikitins neuste Arbeit «Magda Toffler – Versuch über das Schweigen» in der Schweiz zu sehen.

Von Valeria Heintges

Zürich, 20.01.2023

7 min

Ein Coming-out, sagt der Duden, sei ein «absichtliches, bewusstes Öffentlichmachen von etwas, insbesondere der eigenen Homosexualität». Der Basler Autor und Regisseur Boris Nikitin nutzt den Begriff in seiner engen und in seiner weitergefassten Bedeutung, um darauf eine ganz eigene Theaterwelt zu bauen.

Nikitin erklärt das Coming-out, diesen «Akt von Menschen, die ‹rausgehen›, sprechen und sich dadurch verwundbar machen» als einen «Moment der Selbstermächtigung», der sich auch auf andere Bekenntnisse übertragen lasse, wie er im Gespräch mit der Dramaturgin Joy Kristin Kalu und der Theaterkritikerin Christine Wahl sagt.

Als er «Versuch über das Sterben» schrieb, wurde Nikitin klar, dass sich auch sein Vater ihm gegenüber geöffnet und verwundbar gemacht hatte. Der Vater, damals schon sehr krank, vertraute dem Sohn an, dass er mit Sterbehilfe aus dem Leben scheiden wolle. Nikitin verbindet die beiden Coming-outs als Formen «der Selbst-Veröffentlichung oder Grenzüberschreitung», wie er im Gespräch mit dem Soziologen Dirk Baecker sagt.

Die Gespräche mit Kalu, Wahl und Baecker sind erschienen im Buch «Boris Nikitin. Das Gegenteil der Dinge», das sich der Nikitinschen Arbeit von verschiedenen Seiten nähert – in einem überblicksartigen Aufsatz des Herausgebers Florian Malzacher und eben in drei Gesprächen zu spezifischen Arbeiten.

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Florian Malzacher (Hg.): Boris Nikitin. Alexander Verlag Berlin 2022, 170 Seiten.

Die Auseinandersetzung mit dem Coming-out im weiteren Sinne zieht sich durch alle Texte, denn immer wieder setzt sich Nikitin damit auseinander, von «Woyzeck» von 2007 bis zu «Dämonen» oder «Magda Toffler» (beide 2022) und in vielen der 27 Arbeiten dazwischen, die das Werksverzeichnis penibel auflistet.

Der Theaterweg des 43-Jährigen ist, wie Malzacher schreibt, «überraschend gradlinig». Sein Ziel sei es nicht, sich immer wieder neu zu erfinden, weder inhaltlich oder ästhetisch. «Lieber verbohrt er sich immer tiefer, um neue Drehungen im vermeintlich bekannten Spiel zu finden.» Themen wiederholen sich, sogar werden Passagen aus einem Stück in einem folgenden wiederholt.

«Jede Theateraufführung in sich selbst ist ein Coming-out»

«Ich arbeite seit vielen Jahren mit solchen inneren Bezügen», erklärt Nikitin in einem E-Mail-Wechsel zu diesem Artikel. Das schaffe Freiraum, zugleich sei es interessant zu sehen, «wie sich Texte in unterschiedlichen Kontexten verhalten».

«Im Grunde ist ja jede Theateraufführung in sich selbst ein Coming-out», sagt Nikitin, «ein Veröffentlichen und Ausstellen von etwas, in das du dein ganz persönliches Denken, Fühlen, Bewerten (…) eingewebt hast und mit dem du (…) Grenzen zu berühren oder zu überschreiten versuchst.»

Diese Definition mag zutreffen, doch ist der Prozess in der Auseinandersetzung mit einem klassischen Dramentext weniger sichtbar als in Arbeiten wie denen von Boris Nikitin, in denen die Akteur:innen Themen und Texte aus ihrer Autobiografie schöpfen.

In «Versuch über das Sterben» und in «Magda Toffler. Versuch über das Schweigen» sitzt Nikitin allein auf der Bühne: schwarze Hose, weisses T-Shirt, leere, schwarze Bühne. Ruhig liest er seinen Text, legt die weissen Blätter nach der Lektüre ab, eines nach dem anderen. Mehr Reduktion geht nicht, mehr Raum für die Fantasie der Zuhörenden auch nicht. Allerdings sind auch die Grenzen zur Wasserglas-Buch-Lesung fliessend.

Für seine Arbeiten «Versuch über das Sterben» und «Magda Toffler» sitzt der Autor Regisseur und Performer Boris Nikitin alleine auf der Bühne.

Für seine Arbeiten «Versuch über das Sterben» und «Magda Toffler» sitzt der Autor Regisseur und Performer Boris Nikitin alleine auf der Bühne.

Bild: Donata Ettlin

Nicht alle Nikitin-Abende sind so minimalistisch. Zwar steht oft nur eine Schauspieler:in auf der Bühne, aber bei «Erste Staffel. 20 Jahre Grosser Bruder» waren es sechs in einem opulenten Bühnenbild, begleitet von Musik, interagierend mit Live-Video-Einspielungen.

Aufwendig auch «Dämonen» am Theater Basel in Kooperation mit dem Jungen Theater Basel, für das Nikitin mit dem Regisseur Sebastian Nübling zusammenarbeitete. Eine Gruppe junger Leute läuft durch die Stadt, eine Kamera folgt ihnen, umkreist sie und überträgt die Bilder – zwölf Sekunden zeitversetzt – auf eine Leinwand im Theater.

Sie sprechen über sich, ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Gegenwart und Zukunft. Einer spricht über sein Coming-out, eine erzählt von ihrer überstandenen Magersucht, eine davon, dass ihre Mutter sie abtreiben wollte.

Die Idee basiert auf einem Konzept für 24 Stunden; der Abend dauert immer noch drei. «Fast alle meine Arbeiten drehen sich um diese Zeiterfahrung», mailt Nikitin an die Autorin. Da ist wohl noch zu spüren, dass der Basler seine Karriere an der Berliner Volksbühne begann, Frank Castorf bei «Berlin Alexanderplatz» hospitierte, das fünf Stunden dauerte. Er arbeitete auch mit René Pollesch, auch seine Texte sind nüchtern, ohne viel Pathos und werden meist mit den Performer:innen erarbeitet.

«Auf die Biografie festgenagelt»

Sein Weg führte ihn an das renommierte Giessener Institut für Angewandte Theaterwissenschaften. Doch fremdelte Nikitin mit den Arbeiten der Kommilitonen, entwickelte eine profunde Abneigung gegen das dokumentarische Theater etwa von Rimini Protokoll. Deren Expertinnen des Alltags würden als Repräsentant:innen von etwas ausgestellt, «auf ihre Biografie festgenagelt».

Dem gegenüber stellt Nikitin das Prinzip des Handelns, das ein Handeln und gleichzeitig die Möglichkeit des Nicht-Handelns beinhaltet und auch vor dem Hintergrund seiner wiederkehrenden depressiven Schübe zu lesen ist, in denen eben kein Handeln möglich ist. Denn wer redet, hat sich entschieden, nicht zu schweigen. Wer schweigt, hat sich entschieden, nicht zu reden.

 

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«Versuch über das Sterben»

Boris Nikitin, Edition Frida, 2021

Auch das meint der Begriff des Coming-out, der mit dem Wissen funktioniert, dass durch das Sprechen oder das Schweigen die Realität geändert wird. Obwohl in beiden «Versuch»-Abenden viel gesprochen wird, ist in beiden das Schweigen zentral. Besonders deutlich in «Magda Toffler. Versuch über das Schweigen».

Nikitins Grossmutter hat nach der Erfahrung des Holocaust ihr Leben lang verheimlicht, dass sie Jüdin ist. Man darf beim Nachdenken über die Macht des Coming-outs nicht vergessen, dass all diese Bekenntnisse – das Öffentlichmachen der Religion, der sexuellen Vorlieben oder des Wunschs, sein Leben eigenmächtig zu beenden – zu manchen Zeiten lebensgefährlich sein konnten. Und an manchen Orten immer noch sind.

Tourplan der Produktionen von Boris Nikitin.