Bild einer Gebärenden Charlene Föster im FRIDA Magazin.

Gebären, natürlich!

Bild: Avenue Magazin/Charlene Föster

Mutter sein

Blut, Schleim und Glückstränen

Neue Gebärbilder – neue Mütterbilder. Ein so großer Körper soll durch eine so kleine Öffnung passen? Das war die Frage, die mich als Kind umtrieb und heute nicht weniger ...

Von Beate Absalon

Berlin, 11.04.2022

10 min

Nachdem ich den ersten unzensierten Videoclip einer frontal gefilmten Geburt sah, begann das Bingewatchen. Zu meinem Glück teilen Mütter auf Social-Media-Plattformen mittlerweile Unmengen ungestellter Aufnahmen dieses intimen Lebensmoments – mit allem, was an Blut, Schleim, Glückstränen und Stöhnen dazu gehört. Warum eigentlich? Es scheint hier um mehr als Spektakel zu gehen. Hier wollen andere, neue, eigene Bilder von Geburt und Gebären in die Welt gesetzt werden. 

Ehepaar Corinna Virchow und Mario Kaiser, Gründer von Avenue - Das Magazin für Wissenskultur.

Avenue – Das Magazin für Wissenskultur ist eine unabhängige populärwissenschaftliche Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Das Magazin wurde von dem Ehepaar Corinna Virchow und Mario Kaiser gegründet. Die erste Ausgabe erschien 2016. Sie schreiben: «Die Avenue ist ein Ort, an dem sich Menschen über die Wirklichkeit verständigen. Mit Anstand und Argumenten.» Zwei bis drei Mal im Jahr beleuchtet das Magazin ein Gesellschaftsthema von allen Seiten und in allen Tiefen. Für die Avenue schreiben Forscher:innen, die sich oft über Jahre mit einem Gegenstand beschäftigt haben.

FRIDA tauscht in unregelmässigen Abständen Artikel mit Avenue aus, die in das Portfolio beider Magazine passen.

Geburten ohne Gebärende

Lange zirkulierten in unserer Kultur dazu nur vage, lückenhafte und zensierte Bilder. Daniel Hornuff legt in seiner Kulturgeschichte der Schwangerschaft (2014) anschaulich dar, wie frühe Anatomiezeichnungen meist das Ungeborene in seiner Vollkommenheit als Mittelpunkt inszenierten – unabhängig von ihrem «Trägermedium Mutter». In der embryologischen Ästhetik erscheint sie als bloßes Gefäß für den Star der Inszenierung. Entweder wurde sie auf einen anonymen Torso mit abgeschnittenem Kopf zurechtgestutzt oder nur ihr Uterus als Wohnstätte des Embryos abgebildet. 

Möglicherweise tut man sich in patriarchalen Gesellschaften schwer damit, entbunden und nicht erfunden worden zu sein. Wer sich der Illusion hingibt, er habe sich als souveränes, autonomes Wesen selbst erschaffen und sein Leben «my way» gemeistert, muss den mütterlich uterinen Ursprung irgendwie leugnen. Die Erfindung seiner Selbst erträgt es kaum, in Blut, Geschrei und Abhängigkeit zur Welt gebracht worden zu sein: so verletzlich, so schnuckelig nackt, so hilflos. Und daneben diese Gebärenden: von so großen Kräften durchwirkt! Der männliche Gebärneid reagiert darauf mit wirkmächtigen Erzählungen von Sünde, Strafe und Scham. Die Körperhistorikerin Barbara Duden (2014) erkennt eine Zähmung des Gebärens auch im Wandel von traditionellen, sinngebenden Ritualen der Niederkunft hin zur Technisierung des Geschehens in der Geburtsmedizin. Wenn Gebärbräuche ab- und Hospitalisierungen zunehmen, so wagt Duden gar zu behaupten, könne man von Geburten im eigentlichen Sinn nicht mehr sprechen. Man wird zwar technisch assistiert geboren, doch niemand gebärt einen mehr. 

Bildwandel

In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein Bildwandel beobachten. Während in den 1960er-Jahren Lennart Nilsson noch seine Aufnahmen von Embryonen im Life-Magazin veröffentlichte und die Entstehung neuen Lebens visuell heiligte, betraten in den 1990ern hochschwangere Frauen die Bühnen der Magazincover und Werbeplakate. Der mit Stolz und Sexappeal getragene Babybauch wurde zum modischen und politischen Statement. 

Für die Nuller-Jahre halten die Soziologinnen Imogen Tyler and Lisa Baraitser (2013) eine signifikante psychosoziale Wende fest: Zahlreiche Reality-TV-Shows halten das Geschehen in Kreißsälen fest. Die lange verdrängte Geburt ist per Mausklick in abertausend Varianten verfügbar. Also endlich: Demystifizierung und Empowerment? Nicht ganz, wenn die Bilder Panik oder Lampenfieber auslösen, weil sie die Gebärenden passiv und hilflos oder nur mit perfektem Styling zeigen. 

Links: Cover Life-Magazin mit Lennart Nilssons Aufnahme eines Fötus. 1965. Rechts: Cover von Vanity Fair mit Annie Leibovitz ' Aufnahme der schwangeren Demi Moore. 1991.

Links: Cover Life-Magazin mit Lennart Nilssons Aufnahme eines Fötus. 1965. Rechts: Cover von Vanity Fair mit Annie Leibovitz ' Aufnahme der schwangeren Demi Moore. 1991.

Bild: Avenue Magazin

Neue Geburten, neue Bilder

Erst seit Kurzem rücken Privataufnahmen der natural birth community das in Szene, was bislang visuelles Tabu war oder gar monströs wirkte. Sie dokumentieren die Vielfalt der möglichen somatischen und affektiven Zustände von Gebärenden. Sie zeigen das Crowning – den Schwellenzustand, in dem ein Kind mit seinem Kopf aus dem mütterlichen Körper tritt, sodass es für einen Moment wie von der Scheidenwand gekrönt wirkt. Sie machen die Körperflüssigkeiten sichtbar, die Julia Kristeva als abjektiv beschreibt, weil sie Grenzen unterlaufen und auf fraglie Zustände des «Noch-nicht-Ich-und-nicht-mehr-Du» hinweisen. Sie re-imaginieren: Was können Geburten bedeuten? Was lässt sich dabei erleben? Wie können wir sie uns noch vorstellen?

Anders als im Mainstreamkino sehen wir die Gebärenden nicht nur schmerzverzerrt schreien und dem medizinischen Apparat ausgeliefert. Vielmehr lachen sie euphorisch, stöhnen lustvoll, sind tranceähnlich versunken oder legen selbst Hand an, wenn sie ihr Kind oder die Nachgeburt mit sicherem Griff beim Hinausgleiten stützen. Geboren wird zudem auch zu Hause: auf Couch, Bett oder im Pool – umringt von Haustieren, Partner*innen, Freund*innen, Eltern und Doulas. 

In Zeiten, in denen Spitäler Kinder immer häufiger mit einem planbaren Kaiserschnitt zur Welt bringen, halten die Amateurvideos das empathische Geschehen und die quasi-kognitiven Kräfte des gebärenden Körpers fest. Die Texte, welche die Aufnahmen begleiten, betonen, wie sehr es darauf ankomme, der körperlichen Gebärarbeit zu vertrauen, zu lauschen und mit ihr zu kooperieren.

Indem die natural birth community immer wieder Momente des Crownings auf Film bannt, lässt sie sich, so scheint’s, von einem Interesse an jener Schwelle leiten, an der sich Kind und Mutter voneinander trennen und beides zugleich sind: zwei Einzelne und ein Ganzes. Zwei Köpfe und ein Körper. Auf den Bildern erscheint der mütterliche Körper zwischen Lust und Schmerz, zwischen außen und innen, zwischen Erschöpfung und Ekstase. Letztere ist wortwörtlich ein doppeltes «Heraustreten»: Während aus dem Mund ein Stöhnen und Schreien kommt, tritt aus der Vulva das Baby.

Überhaupt das Sexuelle: Die Privataufnahmen rücken hier eine Jouissance ins Licht, die weder sexy noch monströs wirkt. Tatsächlich gleichen sich Sex und Gebären neuronal und hormonell. 

Kunstbild einer Gebärenden aus der Fotoserie Birth Undisturbed von Natalie Lennard.

Lennard, Natalie. 2017. «Salle sauvage».

Bild: Avenue Magazin

Kunstbilder

Abseits dieser Amateuraufnahmen artikulieren Kunst und Kultur selten die erotische Dimension einer Geburt. Eine Ausnahme bildet die Fotoserie Birth Undisturbed von Natalie Lennard, die sie seit 2017 ständig erweitert. Ihre Bilder sind cineastische Tableaux’, von Gebärphilosophien und realen Fallbeispielen inspiriert. Wie ein Leuchtturm weisen sie auf die unerhörten Möglichkeiten des Gebärens hin, «to showcase a more raw, powerful beauty in the most surreal yet commonplace event in a woman’s life». Die eindrucksvolle Komposition Salle Sauvage bezieht sich auf ein gleichnamiges innenarchitektonisches Konzept des Arztes Michel Odent. Als Verfechter der «artgerechten Geburt» erforschte er den Einfluss des unmittelbaren Umfeldes auf den Gebärprozess und liess in den 1970ern in seiner französischen Klinik das «wilde Entbindungszimmer» einrichten. In diesem wird auf Gemütlichkeit und Ruhe gesetzt. Naturfarbene Stoffe und gedämpftes Licht, ein großes Planschbecken und ein hölzerner Gebärstuhl bilden das Inventar. Das Ambiente sollte bei der Gebärenden die Aktivität jener Hirnareale herabsetzen, die für rationales Überlegen zuständig sind, um stattdessen Körperkräfte zu stimulieren, die der Arzt Odent als animalisch und instinktiv beschreibt.

Knowles, Helen. 2011. Drei Youtube-Screengrabs aus der Serie «Heads of Women in Labour».

Knowles, Helen. 2011. Drei Youtube-Screengrabs aus der Serie «Heads of Women in Labour»

Bild: Avenue Magazin

Natalie Lennard übersetzt die Idee des wilden Zimmers in ein urbanes, modernes, high-class Setting. Eingefasst von gläsernen Decken und Wänden schafft ein transparenter Kasten einen Intimraum, der von einer wuchernder Pflanzenwelt umgeben ist, die jedoch hygienisch außen vor bleibt. Vielleicht lässt sich der Sehnsucht nach Natürlichkeit sowieso nur künstlich annähern. 

Im Inneren hält stehend eine platinblonde Schönheit ihr leicht blutverschmiertes, zur Hälfte hinausgepresstes Baby in den Händen. Ihr Gesichtsausdruck vereint in einem energiegeladenen Urschrei Schmerz und Lust. Sähe man nur den Kopf des Models, ließe er sich kaum von dem eines Pornoshootings unterscheiden. 

Auch die Künstlerin Helen Knowles stellt die Parallelen von Geburt und Sex auf der Bildebene unter Beweis. Ihre Serie Heads of women in labour reiht Screenshots von YouTube-Gebärvideos nebeneinander, in welchen nur die Gesichtsausdrücke der Mütter zu erkennen sind, just in dem Moment, in welchem ihr Kind eben als Gekröntes zum Vorschein kommt.

Die neuen Bilder lassen uns Geburt neu wahrnehmen. Sie zelebrieren die Körpermetamorphosen, die Säfte und die liminalen Zustände. Die Bilder stolzer, kraftvoller, sich in ihrer Eigenzeitlichkeit befindender Mütter berühren und lassen darüber staunen, welche unfassbaren Körperkräfte uns bereits zur Welt brachten.

 

Literatur

Duden, Barbara; Silja Samerski & Kirsten Vogeler. 2014. Die gesichtslose Patientin. Wie Menschen hinter Daten verschwinden. Frankfurt am Main. 

Hornuff, Daniel. 2014. Schwangerschaft. Eine Kulturgeschichte, Paderborn. 

Tyler, Imogen & Lisa Baraitser. 2013. «Private View, Public Birth: Making Feminist Sense of the New Visual Culture of Childbirth». Studies in the Maternal 5 (2).