Kunst im Dorf
Ein Bergtal im Fokus der Kunst
Zum zweiten Mal findet im Bergell die Biennale Bregaglia statt. Das Kunstfestival hat jedoch eine längere, bewegte Geschichte. Diese zeigt: Zeitgenössische Kunst in periphere Regionen zu bringen, ist anspruchsvoll, braucht Durchhaltewillen – lohnt sich aber für alle Beteiligten.
Chur, 14.06.2022
«Was macht dieser Künstler eigentlich sonst, also beruflich?» Eine Frage, die im Bergell durchaus ab und zu gestellt wird, sagt Davide Fogliada, Präsident des Vereins Progetti d’arte in Val Bregaglia. Er ist eine der treibenden einheimischen Kräfte hinter den Kunstereignissen, die das Bergell seit gut 14 Jahren zu einem Fixpunkt in der Kulturagenda machen.
Die andere treibende Kraft war der Churer Galerist und Kurator Luciano Fasciati, selbst Sohn eines Bergellers. Unter seiner künstlerischen Leitung wurden zwischen 2010 und 2018 verschiedene Orte im Tal zum Kunst-Hot-Spot: das Hotel Bregaglia, der Palazzo Castelmur, der Albigna-Stausee, die Ortschaft Castasegna. Die Liste der beteiligten Künstler.innen ist so lang, wie das Bergell steil. Pippilotti Rist, Roman Signer, Ursula Palla, San Keller, Not Vital oder Judith Albert sind nur eine kleine Auswahl.
Aber trotz bekannter Namen: Zeitgenössisches Schaffen in dieser Peripherie zu etablieren, ist eine Herausforderung. Es braucht einen langen Atem, Leidenschaft und ein Gespür für lokale Befindlichkeiten. Und es braucht Geld. 400’000 bis 500’000 Franken kostet das mehrmonatige Ereignis mittlerweile. Bis der Kanton Graubünden und die Gemeinde Bergell mittels Leistungsvereinbarungen Kontinuität in das Finanzierungsmodell gebracht haben, hat es fast zehn Jahre gedauert.
2019 kam es zu zwei denkwürdigen Gemeindeversammlungen. Nach intensiv geführtem Abstimmungskampf stimmten letztendlich zwei Drittel der Bevölkerung für eine Mehrjahresförderung zuhanden der neu gegründeten Biennale Bregaglia. Dass «Künstler» ein Beruf ist wie Förster oder Architekt, diese Einsicht scheint angekommen zu sein. Und sicher auch die Erkenntnis, dass Kulturereignisse in einem von Abwanderung und sanftem Tourismus geprägten Tal auch finanziellen Mehrwert bringen. Zuhanden der Abstimmung errechnete der Trägerverein, dass jeder von der Gemeinde investierte Franken um das Eineinalbfache wieder ins Tal zurückfliesst. Dabei sind die Werbeeffekte noch gar nicht mitgerechnet.
Wechsel im Kuratorium
Die zweite Ausgabe der Biennale steht unter dem Stern der Veränderung. Luciano Fasciati hat das Kuratorium abgegeben. Um seiner Heimat trotzdem künstlerisch treu zu bleiben, hat er in einem ehemaligen Wartesaal (entworfen von Bruno Giacometti) im Grenzort Castasegna den kleinen aber feinen Ausstellungsort «Sala Viaggiatori» gegründet (siehe dazu Infobox am Schluss des Textes).
An seiner Stelle haben für die Ausgabe 2022 die Schweizer Kuratorinnen Bigna Guyer und Anna Vetsch übernommen. Sie haben zwölf künstlerische Positionen, davon zwei Duos, eingeladen, sich mit der «Verbindung der Bergeller Dörfer zueinander» zu beschäftigen. Recherchen vor Ort, in der Literatur zum Tal, in historischen Dokumenten dienten als Grundlage, um ein Dutzend «Spielorte» in Vicosoprano zu bestimmen, dem ehemaligen Hauptort des Tals. Die Verdichtung auf ein Dorf kommt den Besuchern entgegen, da der Parcours in ein, zwei Stunden zu besichtigen ist. Die Beschränkung auf das Dorf hat aber auch zur Folge, dass das Leitthema etwas unter den Tisch fällt. «Die Verbindung der Bergeller Dörfer zueinander» wird wohl eher Thema der rund 50 Begleitveranstaltungen sein. Oder war es an der Eröffnung. Der gemischte Chor des Tals brachte der Kunst ein mehrteiliges Ständchen. Melancholisch-schön, von Heimat und Heimweh durchdrungen.
Zwischen Ort und Entortung
Das Festivalzentrum mit Bibliothek ist in der prächtigen «Villa Helvetia», dem ehemaligen Posthotel, direkt an der Umfahrungsstrasse untergebracht. Aber der Rundgang könnte auch bei einem alten Stall am Berghang beginnen. Ein idyllischer Ort, von wo aus Dorf und Tal zu überblicken sind. Das historische Zentrum mit den stolzen Palazzi, umgeben von einem kleinen Speckgürtel aus Einfamilienhäusern. Hier oben, am Fusse eines von Trockensteinmauern gesäumten uralten Weges, hat der Appenzeller Künstler Christian Hörler einen Quader mit Steinen aus der Umgebung in den Hang gestellt. Verblüffend präzise, mörtellos, eine Verneigung vor dem Handwerk im von Bergstürzen geprägten Tal.
Genauso gut ist der Einstieg in die Biennale aber auch bei der Nummer eins auf dem Begehungsplan möglich. Die afghanisch-deutsche Künstlerin Jeanno Gaussi bespielt die Fassade der Getränkefabrik Semadeni, direkt an der Schnellstrasse gelegen, mit neun grossen Leinwänden, grafisch stilisierten Motiven, die sie aufgrund von Fotos aus dem Dorf entworfen hat. Pandemiebedingt konnte die Künstlerin nicht im Vorfeld anreisen. Trotzdem schafft sie unmittelbare Nähe durch ihre Kunst. Die 5. und 6. Schulklasse schreibt über ihre Bilddestillate Aufsätze und entwirft wiederum Objekte, die Teil der Installation werden. Ein schönes Beispiel, wie Kunst niederschwellige Kommunikationsangebote machen kann.
Die afghanisch-deutsche Künstlerin Jeanno Gaussi bespielt die Fassade der Getränkefabrik Semadeni. Bild: Michel Gilgen
Diese ortsbezogene soziale Nähe gelingt nicht überall gleich. Die Leuchtkörper der renommierten deutsch-türkischen Künstlerin Nevin Aladağ, bei der alten Brücke über dem Fluss Maira, entfalten nachts zwar ein schönes Farbspiel. Sie rücken die Bedeutung des Wassers und der vom EWZ Zürich betriebenen Kraftwerke aber eher dekorativ als analytisch in den Blick.
Die knallbunte Kunstpflanze der Türkin Nilbar Güreş lockt zwar in einen lauschigen Garten neben der Kirche, könnte aber auch an irgendeinem Kunstfestival ihr Statement gegen Transphobie verströmen. Die Künstlerin beklagt beim Besuch die unkreative Hektik des internationalen Kunst-Jetsets, aber ihre Skulptur soll wiederum als Art-Selfie-Point dienen, dessen Fotos per Social Media um die Welt gehen. Da ist die Entortung bereits Programm.
Ausverkauf des Dorfkerns
Näher am Tal-Leben dran ist da der französisch-schweizerische Künstler Julian Charrière, obwohl seine Arbeit nicht ortsspezifisch entstanden, sondern eine Leihgabe ist. Charrière hat 2020 im Kunsthaus Aarau mit seiner monumentalen Videoarbeit über die Eismassen der Antarktis ein eindrucksvolles Statement präsentiert. Auch im Bergell thematisiert seine Videoarbeit in einem verborgenen Innenhof das Verhältnis von Mensch und Natur. Krachend fällt da ein Baumriese nach dem anderen zu Boden. Ein Kunstwerk, das den Förstern und Waldarbeitern im stark bewaldeten Bergell sicher zu reden geben wird.
Der Ort, wo das Video läuft, reflektiert aber auch ein weiteres Phänomen im Tal. Das sonst leerstehende Haus wird als Lager genutzt, wie viele andere der alten Häuser im Dorf. Die Einheimischen haben sich, anstatt in den dunklen, engen Gassen und den schwer heizbaren Steinhäusern zu bleiben, ihr neuen Eigenheime am Dorfrand gebaut, was die verlassenen Häuser wiederum zu Spekulationsobjekten macht. Der Run auf alte Bausubstanz und Ferienhäuser schwappt rasant vom hochpreisigen Oberengadin ins Bergell, Wohnungsnot für Einheimische inbegriffen.
Der französisch-schweizerische Künstler Julian Charrière zeigt in Vicosoprano sein Video «Ever Since We Crawled Out». Bild: Michel Gilgen.
Die Entdeckung eines Dorfes
Die Kunst lädt auf weitere Entdeckungsspaziergänge durch das Dorf. Verwunschene Gärten, uraltes Kopfsteinpflaster, prächtige Palazzi mit grossen, meist verschlossenen Türen. Diejenige zum ältesten Haus im Dorf ist jedoch geöffnet. 170 Jahre war es nicht bewohnt, mit Gerümpel vollgestopft. Die Kuratorinnen liessen es ausräumen und schufen in dieser niedrigen, höhlenartigen Wohnstatt Platz für ein spektakuläres Bilderkabinett. Der 29-jährige Bündner Maler Andriu Deplazes hat die Räume mit verstörenden Familienporträts ausgestattet. Gespenster, die der vermeintlichen Dorfidylle spotten.
Gleich nebenan zielt die Baslerin Lena Maria Thüring auf ein anderes Gespenst aus der Vergangenheit: die Hexenprozesse, die im unweit gelegenen Municipio vom 16. bis ins 18. Jahrhundert abgehalten worden sind. Ihr Video zeigt Nahaufnahmen von Bachläufen und Kräutern. Dazu läuft eine Tonspur: Der Chor des Bergells rezitiert aus den damaligen Verhörprotokollen die Fragen. Daneben setzt die Künstlerin eine ironische Pointe: Für die mittlerweile nicht mehr unter Hexerei-Verdacht stehenden Kräuterproduzenten aus Soglio hat sie einen eigenen Duft entwickelt.
Mit der Situation der Frauen im streng protestantischen Tal beschäftigt sich auch die mit der «Wild Carte» der Biennale ausgezeichnete Künstlerin Zoé Cornelius. In den elf Brunnen des Dorfes hat sie fotografische Fantasien einer fiktiven Bergellerin namens Sina versenkt. Die wilde Pippi Langstrumpf lässt grüssen.
Kein Zutritt für Menschen
Alexandra Navratil thematisiert die schwer zähmbare Natur im Bergtal in einer schäbigen Blech-Garage am südlichen Dorfrand. Ihre an surrealistische Filme erinnernde Collage aus wissenschaftlichen Filmen ist irritierender Kommentar zur romantisch anmutenden Natur-Idylle rundherum.
Einen Schritt weiter im Zusammenspiel von Kunst und Natur geht der/die Bündner Künstler:in Val Minnig. Die Installation namens «Raw Bite» auf dem Balkon eines Stalles im Dorfzentrum ist nur für Tiere zugänglich. «Kein Zutritt für Menschen» steht da. Mit etwas Geduld kann man einen Blick auf die kunstfrei-glücklichen Hühner im Hinterhof erhaschen.
Popcorn und Gelati
Diese zweite Biennale lädt zu einer inspirierenden, gelungenen Mischung aus sperriger, kritischer und leicht zugänglicher Kunst. Und ja, die Verbindung zwischen den Dörfern kommt doch noch zum Tragen.
In den Lebensmittelläden des Tals können Postkarten von Jiří Makovec und Jiajia Zhang gekauft werden. Beim Betreten der Geschäfte sollte man sich gut umsehen. Irgendwo zwischen den Lebensmitteln steht auch ein kleiner Bildschirm. Dort läuft ein Video von Rico Scagliola und Michael Meier. Beim Besuch des Schreibenden war grad ein Mann in Rokoko-Kostüm mit einer Platte Patisserie zu sehen – in sehr langsamer Zeitlupe.
Sie könne das nicht schauen, das sei ihr viel zu langsam, sagt da eine der Verkäuferinnen. Worauf sich ein kurzes Gespräch über die Idee entspinnt, Stühle vor den Screen zu setzen und Popcorn und Gelati zu verkaufen. Womit der Beweis erbracht ist: Die Biennale inspiriert.
Biennale Bregaglia, bis 24. September 2022
Hommage an die Postkarte
Falls Biennale-Reisende länger im Tal verweilen oder Richtung Italien unterwegs sind: Im Grenzort Castasegna lohnt sich der Besuch der «Sala Viaggiatori». Im als Baudenkmal geschützten Pavillon des Architekten Bruno Giacometti zeigt der Kurator Luciano Fasciati ein dichtes, verspieltes und sehr informatives Kabinett zum Thema Postkarten. (mb)
«Max. 5 Grussworte – Das Postkartenbergell», bis 28. August.