In Martina Clavadetschers neustem Stück «Bestien, wir Bestien» sind die Mütter in einer düsteren Dystopie gefangen.

In Martina Clavadetschers neustem Stück «Bestien, wir Bestien» sind die Mütter in einer düsteren Dystopie gefangen.

Bild: Janosch Abel

Essay

In Bern boomt das politische Theater

Theater in Bern ist momentan hochaktuell und relevant. Die Bühnen Bern und das Schlachthaus Theater fordern ihr Publikum mit ungemütlichen, politischen Stoffen.

Von Marina Bolzli

Bern, 13.12.2022

6 min

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal  «Hauptstadt» erschienen. Das Berner Stadtmagazin wurde wie FRIDA im März 2022 ins Leben gerufen und gehört ebenfalls zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz. 

 

Hallo Zukunft? Sind das wirklich düster gekleidete Gestalten, die Puppen an sich drücken und so tun, als ob es geliebte Babies wären? «Pseudomütter» seien diese Gestalten, wird denn auch gleich aufgeklärt im Stück «Bestien, wir Bestien» von Bühnen Bern (Regie: Franziska Autzen). Weil in dieser Welt, von der Schwyzer Autorin Martina Clavadetscher geschaffen, sind alle Frauen unfruchtbar geworden.

«Bestien, wir Bestien» ist eine Dystopie, ein zweiteiliges düsteres Zukunftsszenario, vor dem man gerne die Augen verschliessen würde. Aber wie soll das gehen, wenn da eine Hohepriesterin (Yohanna Schwertfeger), die keinen Widerspruch duldet, grosse Reden schwingt? Wenn da löchrige militärische Tarnnetze verhindern, dass es überhaupt noch so etwas wie eine Privatsphäre gibt (Bühne: Ute Radler) – und das Gebären keine persönliche Entscheidung mehr, sondern dem Diktat des Kollektivs unterstellt ist?

Es ist ein Werk, das intellektuell herausfordert. Der Text ist dicht, vor allem im ersten Teil lässt er den Schauspielerinnen fast nicht genügend Freiraum, sich in das Stück hineinzugeben. Es ist der Preis, den sie zahlen, und den auch das Publikum zahlen muss. Dafür erhält es Relevanz und Aktualität.

Mut zum Risiko

Das Stück, am Samstag 10. Dezember 2022 uraufgeführt, reiht sich ein in eine Saison von solchen Werken. Sie sind mutig, aber auch immer mit einem Risiko verbunden. Es geht um die Zukunft – oder vielmehr darum, dass es vielleicht keine gibt – es geht darum, wo wir Menschen hindriften.

«Bestien, wir Bestien» von Martina Clavadetscher spielt derzeit an den Bühnen Bern.

«Bestien, wir Bestien» von Martina Clavadetscher spielt derzeit an den Bühnen Bern.

Bild: JanoschAbel

Wie hat der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried kürzlich im Interview mit der «Hauptstadt» über Berns grösstes Theater gesagt? «Vom Schauspiel war ich lange eher mässig begeistert, ich fand, auf anderen Bühnen werde Interessanteres geboten. Aber im Moment spielt die Musik auf Bühnen Bern. Ich bin ziemlich begeistert.»

Wo spielt die Musik?

Ist das wirklich so, spielt die Musik auf Bühnen Bern? Zweifellos will die Leitung des Schauspiels von Bühnen Bern, Direktor Roger Vontobel und Chefdramaturgin Felicitas Zürcher, viel. Sie muten Bern auch viel zu. In dieser Saison zum Beispiel «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch» von Kim de l’Horizon, Berner Autor:in der Stunde.

Es ist eine äusserst freie Adaption des bekannten Märchens, das in einer Zukunft spielt, in der die Welt schon untergegangen ist. «Wer nicht gerne die Orientierung verliert oder Uneindeutigkeiten abgeneigt ist, besucht besser ein anderes Theaterstück», fand Flavia von Gunten in ihrer Rezension für die «Hauptstadt».

Dann «Hunger. Ein Feldversuch», ein Stück, das das Publikum zwischen bepflanzten Hochbeeten mit unbequemen Fragen zum Welthunger bombardiert. Auch hier, genau so wie bei «Bestien, wir Bestien», sind es Fragen, die man sich nicht gerne stellt. Ungemütliche Theaterabende.

Ein Händchen für Talente

Auch von den Stücken im neuen Jahr ist Herausforderndes zu erwarten: Die beiden Bücher «Das Bernbuch. Meine weisse Stadt und ich» und «Identitti» erschienen 2021. Sie wurden breit diskutiert, trafen auf ein wandelndes Bewusstsein in der Bevölkerung. Und die Schauspielleitung von Bühnen Bern reagierte atemberaubend schnell und adaptierte sie fürs Theater. Das ist beeindruckend, vor allem, wenn man weiss, wie viel Vorlauf eine Saisonplanung normalerweise braucht.

Vontobel und Zürcher haben ein Händchen für Talente. So auch schon, als sie letzte Saison Kim de l’Horizon als Hausautor:in nach Bern holten. Niemand kannte der/die jetzt mit einem doppelten Buchpreis gekrönte Autor:in damals.

Ebenso stilsicher ist die Wahl der sich radikal mit Zukunftsdystopien befassenden Schweizer Autorin Martina Clavadetscher oder dem bisher in Bern noch unter dem Radar laufenden, und in dieser Saison als Hausautor tätigen Dmitrij Gawrisch. Gawrisch, der in Bern aufgewachsen ist, aber in Berlin lebt und sich dort auch einen Namen erarbeitet hat, wird Henrik Ibsens «Ein Volksfeind» erweitern.

Auf in die neue Geschlechterunordnung

Und damit Szenenwechsel. Beim Schlachthaus Theater war das erste Stück der Saison das Epos «Zum Glück», eine Zusammenarbeit mit dem inklusiven Kulturhaus Heitere Fahne. Auch im Schlachthaus folgten schwere Themen wie Rassismus, Opferrollen, Sexarbeit, Migration. Und im Moment Queerness. «Roaring» feierte wie «Bestien, wir Bestien» am Samstag, 10. Dezember 2022, Premiere.

Jules* Elting spielt in Martin Bieris Stück «Roaring Girl» am Schlachthaus Theater Bern eine Solo-Performance. Regie: Antje Schupp

Jules* Elting spielt in Martin Bieris Stück «Roaring Girl» am Schlachthaus Theater Bern eine Solo-Performance. Regie: Antje Schupp

Bild: Rob Lewis

Es ist die Adaption des 1610 erschienen englischsprachigen Stücks «Roaring Girl» von Thomas Dekker und Thomas Middleton. Das Stück dreht sich um die reale Person Mary Frith, welche die Geschlechterordnung der Zeit brach, indem sie als Mann und Frau auftrat. Der Berner Dichter und Theaterautor Martin Bieri hat das Stück übersetzt und bearbeitet.

Es ist nun ein Einpersonen-Stück, gespielt von Jules* Elting unter der Regie von Antje Schupp. Elting spielt alle Rollen, wechselt fliessend von Englisch ins Deutsche, von Mann zu Frau und zurück. Es ist ein eindringlicher Monolog, der zeigt, wie schwierig es ist, in einer Gesellschaft anders zu sein, freier vielleicht, aber gleichzeitig ausgestellter. «Was ihnen fehlt, bin ich. Ich bin das Begehren, das sie frisst», sinniert Elting als Mary Frith.

Irgendwann wechselt Elting völlig ins Englische und jetzt wird’s richtig intensiv: Es geht um ganz persönliche Erlebnisse, darum, wie es ist, als nonbinärer Mensch zu leben, in welcher Rolle man von der Gesellschaft gesehen wird. Dieser Teil ist ein Auszug aus dem Text «It is not about pronouns» von Althea. Ein Text, der erst vor wenigen Wochen ins Internet gestellt worden ist. Auch hier: Hochaktuell, relevant – und herausfordernd. Wer Englisch nicht gut beherrscht, ist in diesem Stück verloren.

Eine Prise mehr Witz

Ja, auf Berns Theaterbühnen ist es momentan nicht gemütlich. Die Stücke sind politisch, aber nicht moralisch. Und das ist eine Leistung, die nicht selbstverständlich ist. Sie sind mutig – und auch mal pathetisch, wie in Teilen von «Bestien, wir Bestien», wenn die Schauspielerinnen im Chor Parolen skandieren.

Nur eines könnte noch bemäkelt werden: Auch wenn in Anbetracht der Weltlage Missstände durchaus auf der Bühne thematisiert gehören, wünscht man sich manchmal doch, es wäre noch eine Prise mehr Witz dabei. Nur so, damit man mit einem Lächeln auf den Lippen in die düstere Zukunft geschubst wird.

«Bestien, wir Bestien», Bühnen Bern.

«Roaring», Schlachthaus Theater.