«Well-Tempered Manuscripts», eine Arbeit des unabhängigen Post-Theaters in St. Petersburg unter der Regie von Dmitry Volkostrelov.

«Well-Tempered Manuscripts», eine Arbeit des unabhängigen Post-Theaters in St. Petersburg unter der Regie von Dmitry Volkostrelov.

Krieg in der Ukraine

In Russland fällt der letzte Vorhang für politisches Theater

Der junge russische Kunst-, Theater- und Popkritiker Anton Khitrov hat uns aus seinem Exil Post geschickt. Angeregt hat den Austausch sein Freund, der Basler Choreograf Marcel Schwald. Khitrov schreibt: «Wahrscheinlich ist es jetzt vorbei mit einer lebendigen Theaterlandschaft in Russland. Für lange Zeit.»

Von Anton Khitrov

Aus dem Exil, 25.05.2022

9 min

Wahrscheinlich ist es jetzt vorbei mit einer lebendigen Theaterlandschaft in Russland. Das ist zwar nichts im Vergleich zu dem Preis, den die russische Gesellschaft für den Krieg mit der Ukraine zahlt, und erst recht nichts im Vergleich zu den Leiden des ukrainischen Volkes. Als Theaterkritiker aus Russland kann ich jedoch nicht anders, als auch über das Schicksal jener künstlerischen Praxis nachzudenken, die ich in den letzten zwölf Jahren erlebt und beschrieben habe.

Gab es in Russland vor dem Krieg politisches Theater? Ja und nein. Ein Theater, welches den Missbrauch der Staatsmacht anprangert oder offen darüber reflektiert, ist in den letzten Jahren extrem selten geworden, weil eine solche Kunst ab den 2010er Jahren für Künstler:innen immer riskanter wurde.

Der junge russische Kunst-, Theater- und Popkritiker Anton Khitrov.

Anton Khitrov schreibt als Kritiker über zeitgenössische Kunst, Theater und Popkultur, in bekannten Medien wie «Meduza», «Colta» oder «Afisha Daily». Er kuratierte ein Förderprogramm für junge Autor:innen namens «The Discipline» in Novosibirsk und die Saison 2021/22 am «MOÑ Theater» in Kazan. Daneben entwickelte er Online-Kurse für Blogger:innen und Kritiker:innen zu den Themen Kunst und Schreiben, z.B. «How to write about culture to be read?»

Kultur wird kontrolliert, jegliche Kritik bestraft

Wir kennen das Beispiel des Regisseurs Kirill Serebrennikov, der in seinen Theaterarbeiten und Interviews das autoritäre russische Regime offen kritisierte und 2017 beschuldigt wurde, zusammen mit Mitgliedern seines Teams Gelder aus dem Staatshaushalt veruntreut zu haben. Obwohl Experten nachwiesen, dass kein solcher Tatbestand vorlag, verurteilte das Gericht im Jahr 2020 drei der vier Angeklagten zu Bewährungs- und Geldstrafen und forderte ausserdem Kompensationen für den angeblichen Schaden von rund 1,8 Millionen Dollar. Serebrennikov hat seine Strafe abgesessen und das Land verlassen.

Wie wir wissen, setzen Wladimir Putin und seine Entourage die Interessen der Russinnen und Russen mit ihren eigenen gleich. Deswegen rechtfertigen Beamte ihren Kontrollwillen über die Kultur folgendermassen: Wenn eine kunstschaffende Person staatliche Gelder erhält, hat sie oder er kein Recht, etwas zu tun, das für den Staat unvorteilhaft ist. Aber auch für Künstler:innen, die für privates Geld arbeiten, ist eine offene Konfrontation mit den Behörden nicht ungefährlich. Das zeigt das Beispiel des unabhängigen Theater.doc in Moskau, das seit 2014 unter Druck steht, weil es die staatliche Gewalt kritisiert. Alle paar Jahre wiederholen die Behörden das gleiche Schema im Umgang mit Theater.doc: Sie zwingen die Eigentümer:innen der Räumlichkeiten, die das Theater anmietet, den Mietvertrag vorzeitig zu kündigen.

Besondere Theaterformen als mögliche Motoren des Wandels

Künstler:innen, die die politischen Werte von Putins Regime nicht teilen und alternative Werte verbreiten wollen, werden faktisch der Möglichkeit beraubt, über die Gegenwart zu sprechen. Aber bis vor kurzem konnten sie sich zumindest mit der Zukunft befassen.

Hier ist die Logik, der sie folgten. Obwohl das Theaterpublikum extrem klein ist im Vergleich zum Kinopublikum, kann eine Aufführung eine:n einzelne:n Zuschauer:in viel stärker beeinflussen als ein Film. Das Theater hat zwar momentan nicht die Macht, die öffentliche Meinung zu ändern, aber theoretisch ist Theater in der Lage, Motoren des Wandels zu schaffen, wenn es seinen natürlichen Vorteil nutzt – den direkten Kontakt mit dem Publikum.

Theaterformen mit unterschiedlichem Partizipationsgrad wurden in Russland genutzt, um dem Publikum aktive Rollen aufzuzeigen. Die Zuschauer trafen Entscheidungen, die ihre Theatererfahrung (oder die Erfahrung anderer Zuschauer) ebenso beeinflussen wie die Entscheidungen der Kunstschaffenden. Auf diese Weise verwandelte sich das Theater von einer Show in eine Art Spiel, das gesellschaftlich nützliche Fähigkeiten wie Vertrauen, Solidarität oder Widerstand gegen Gewalt trainieren konnte.

Das Publikum ermuntern, Werte zu formulieren

Russische Stücke, die das Publikum zur Teilnahme aufforderten, nahmen nicht immer Stellung zur politischen Agenda. Ehrlich gesagt haben sie das fast nie getan. Aber wenn Leute, die sich nicht kennen, eine Gruppe bilden und miteinander interagieren, ist das immer politisch. Wenn die Gruppe keinen praktischen Zweck verfolgt und das einzige Ziel ihres kurzlebigen Zusammenschlusses darin besteht, die Möglichkeiten dieser Gemeinschaft zu erkunden, wird der politische Hintergrund einer solchen Aktivität offensichtlich. In Russland wurden interaktive Formate jedenfalls so gelesen. Das Publikum wurde ermutigt, nach Bildern der Zukunft zu suchen, Werte zu formulieren, die eines Tages auf die gesamte Gesellschaft oder zumindest auf einen bedeutenden Teil von ihr ausgedehnt werden könnten. Diese Art Kunst kann als Sublimierung eines Lebens mit Bürgerrechten oder als aufgeschobenes Leben mit Bürgerrechten bezeichnet werden. Es war zwar nicht möglich, das «schöne Russland der Zukunft» (wie der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny das demokratische Russland nach Putin nennt) zu erlangen, aber zumindest konnte sich das Publikum darauf einschwören.

«Well-Tempered Manuscripts»: eine Gesellschaft aus Individuen

Ich muss hierbei an zwei Projekte denken, die auf politischen Überzeugungen gründen, auch wenn sie sich formal nicht auf aktuelle russische Probleme beziehen. Eines davon sind die «Well-Tempered Manuscripts», eine Arbeit des unabhängigen Post-Theaters in St. Petersburg unter der Regie von Dmitry Volkostrelov. 12 Freiwillige aus dem Publikum lesen laut von 12 Birkenrindenmanuskripten vor, bei denen es sich um Briefwechsel zwischen einfachen Bewohnern des mittelalterlichen Russlands handelt. Anschliessend versuchen sie, die Botschaften aus dem Gedächtnis nachzuerzählen (was angesichts des Unterschieds zwischen der alten ostslawischen Sprache und dem modernen Russisch gar nicht so einfach ist).

Die Geschichte Russlands, wie sie sich die gegenwärtige Gesellschaft und die politische Elite vorstellen, ist die Geschichte von Zaren, herausragenden militärischen Führern und Staatsmännern; das einfache Volk kann als Teilnehmer an historischen Ereignissen nur als ein einheitlicher unteilbarer Organismus erkannt werden. Die «Well-Tempered Manuscripts» basieren auf einer Idee, die dem gegenwärtigen russischen Regime kategorisch entgegenläuft: Eine Gesellschaft besteht immer aus Individuen mit ihren privaten Interessen. Der Regisseur adaptiert dies auf die theatrale Situation: Er gibt jenen Zuschauern eine Stimme, die im traditionellen Theater schweigen sollten, und hebt einzelne Personen aus dem kollektiven Körper des Theaterpublikums hervor.

«Love Letters» lässt Privatpersonen zu Wort kommen

Die zweite Aufführung, die sich formal unterscheidet, aber ähnliche Werte verfolgt, ist «Love Letters» vom Pop-up Theater, einem weiteren unabhängigen Theater aus St. Petersburg, das von Semyon Aleksandrovsky geleitet wird. Dieses interaktive Projekt stellt sich gegen die Mythologie der ehemaligen Hauptstadt des russischen Reiches. Das historische Zentrum von St. Petersburg ist ein Monument, das der Staat zu seinen eigenen Ehren errichtet hat, eine geometrisch korrekte klassizistische Stadt mit Flüssen und Kanälen, die mit Granit verkleidet sind, ein Modell der Welt, das dem rationalen Plan des Zaren vollkommen gehorcht.

«Love Letters», unabhängiges Pop-up Theater St. Petersburg, unter der Leitung von Semyon Aleksandrovsky.

«Love Letters» ist eine App für individuelle Spaziergänge, in welcher St. Petersburger Adressen mit Audioaufnahmen von Liebesbotschaften aus verschiedenen Zeiten, vom 18. Jahrhundert bis heute, versehen werden. Das Publikum kann nicht nur die vom Projektteam ausgewählten und vertonten Briefe anhören, sondern auch eigene Liebesbotschaften aufzeichnen und in den Stadtplan hochladen. Alexandrowski macht den Behörden die Autorschaft der Stadt streitig: In «Love Letters» werden Privatpersonen zu den Autorinnen und Autoren von St. Petersburg.

Droht das Theater, zu einer archaischen Praxis zu verkommen?

Ich masse mir nicht an prophezeien zu können, wie die Kulturpolitik in Russland bald aussehen wird. Vielleicht wird es unabhängigen Kollektiven gelingen, sich der totalen ideologischen Kontrolle zu entziehen. Vielleicht werden sich sogar staatliche Kultureinrichtungen eine gewisse Freiheit leisten können. Natürlich kann niemand gefahrlos Putin, sein Regime und seinen Krieg kritisieren. Aber das bedeutet nicht, dass russische Künstler verpflichtet sind, täglich den Behörden zu dienen und ausschliesslich deren Ideale zu fördern. Theoretisch könnte die stillschweigende Übereinkunft zwischen dem Staat und der kreativen Klasse folgendermassen aussehen: Wir erlauben euch, so zu arbeiten, wie ihr wollt, aber ihr schweigt zum Hauptproblem. Das ist das optimistischste Szenario, das ich mir derzeit vorstellen kann.

Aber selbst solche Bedingungen werden nicht von allen akzeptiert werden. Diejenigen, für die Kunst in erster Linie eine Möglichkeit ist, ihre Werte zu verwirklichen (die sich nicht mit den Werten des Putin-Regimes decken), werden mit grosser Wahrscheinlichkeit entweder das Land verlassen oder ihren Beruf wechseln. Das Theater, das früher ein Bild der Zukunft bot, wird aussterben oder zu einer Imitation seiner selbst werden – weil es unmöglich ist, es weiterhin ehrlich zu machen, ohne den Krieg zu thematisieren. Was können wir über die Zukunft sagen, wenn wir nicht wissen, wie wir diesen Krieg beenden oder neue Kriege verhindern können?

Das ist schlecht, denn die Einbeziehung des Publikums in ein soziales Spiel ist fast das Einzige, was die Theaterkunst heute sinnvoll macht. Filme und Fernsehserien kommen besser oder zumindest nicht schlechter mit anderen möglichen Aufgaben des Theaters zurecht, wie dem Erzählen faszinierender Geschichten oder dem Verblüffen des Publikums mit einer grossartigen Show. Was an Film und Fernsehen derzeit aber wirklich am wichtigsten ist: Man kann sie sehen, ohne das Haus zu verlassen. Die Möglichkeit, mit anderen Menschen ausserhalb des Internets sinnvoll zu interagieren, sich mit ihnen nach den Regeln zu vereinen, die man für effektiv hält, ist eines der wenigen einzigartigen Dinge, die das Theater seinem Publikum heute bieten kann. Wenn das Theater aufhört, diese Möglichkeit zu nutzen, wird es zu einer archaischen, beliebigen kulturellen Praxis. Wie es scheint, wird in Russland genau das passieren.