Barbara-David Brüesch, die neue künstlerische Leitung im Schauspiel, bringt einige Veränderungen ins frisch sanierte Theater St. Gallen.

Barbara-David Brüesch, die neue künstlerische Leitung im Schauspiel, bringt einige Veränderungen ins frisch sanierte Theater St. Gallen.

Bild: Gian Ehrenzeller/Keystone

Ein Gespräch mit Barbara-David Brüesch

«Es ist mir ein grosses Anliegen, dieses Theater nachhaltiger zu machen»

Barbara-David Brüesch wechselt am Theater St. Gallen von der Position der Hausregisseurin zur Künstlerischen Leitung im Schauspiel. Ein Gespräch über Frauen in Leitungspositionen, ungleiche Bezahlung, Nachhaltigkeit, Diversität, Kooperationen und Tiefenbohrungen am Theater.

Von Valeria Heintges

St.Gallen, 06.06.2023

10 min

Frau Brüesch, die lokale Zeitung titelte zu Ihrer Berufung: «Endlich eine Frau!» Trifft Sie das oder freut es Sie?

Barbara-David Brüesch: Es trifft mich eher, denn ich will nicht auf die Frau reduziert werden. Ich will für das gewählt werden, was ich vorhabe. Andererseits: Es ist auch einfach wahr und an der Zeit, dass sich was ändert. Die anderen Spartenleiter sind alle Männer.

Gibt es Punkte, an denen Sie festmachen können, dass Sie als Frau in einer Leitungsposition anders agieren als es ein Mann tun würde?

Ja, auch wenn man vieles nach aussen gar nicht sieht. Ich habe Teilzeitstellen und feste Stellen für Frauen geschaffen, die bisher auf Stundenlohnbasis gearbeitet haben. Auch versuche ich auszugleichen, dass Kostümbildner:innen, traditionell ein Frauenberuf, oft weniger verdienen als Bühnenbildner:innen, traditionell ein Männerberuf. Das ist alles komplizierter als ich dachte, aber es muss möglich sein, wenn wir Geschlechtergerechtigkeit schaffen wollen.

Hilft Ihnen das Insiderwissen der Regisseurin, um solche neuralgischen Punkte zu identifizieren?

Ich weiss, wo Künstler:innen benachteiligt werden, weil ich selbst aus dem künstlerischen Bereich komme. Man muss es durchschauen, um es ändern zu können. Ich finde es schön, jetzt darauf mehr Einfluss zu haben. Das gilt natürlich auch für die Spielplangestaltung, aber die Ebene hinter der Bühne sieht man oft nicht.

Wollten Sie auch deshalb in eine Leitungsposition?

Ja, denn als freischaffende Regisseurin bin ich immer wieder an Strukturen gescheitert und habe mich gefragt: Wie lassen die sich verändern? Aus der Regieposition heraus sah ich die Fragen der Gleichstellung: Wie können wir diverser werden im Theater? Wie kann auch das Publikum diverser werden? Und ich wollte auch mal selbst leiten.

Barbara-David Brüesch

ist 1975 in Chur geboren und studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin Regie. Nach dem Studium gründete sie die Gruppe HundinHose, mit der sie mehrere freie Projekte realisierte. Ihre Inszenierungen wurden unter anderem zum Impulse-Festival/NRW, in die Sophiensaele sowie den Roten Salon der Volksbühne nach Berlin eingeladen. Seit 2001 arbeitet Barbara-David Brüesch als Theater- und Opernregisseurin an diversen Häusern im In- und Ausland. In der Schweiz entstanden Inszenierungen am Theater Basel, am Theater Luzern, am Theaterhaus Gessnerallee und am Theater Neumarkt in Zürich, am Theater Winterthur, für das Theater Kanton Zürich und die Schlossoper Haldenstein sowie an den Stadttheatern Bern, St.Gallen und Chur. In Deutschland inszenierte sie beispielsweise für die Berliner Festwochen oder am Staatstheater Stuttgart. In Österreich an den Werkstatttagen am Wiener Burgtheater, am Schauspielhaus Graz sowie mehrfach am Schauspielhaus Wien, in Co-Produktion mit den Wiener Festwochen, den Bregenzer Festspielen und der Ruhrtriennale.

Konnten Sie die Pläne umsetzen, mit denen Sie angetreten sind und gewählt wurden?

Ja. Die Nachhaltigkeit fliesst jetzt ganz konkret in die Projekte ein. Auch die Diversität, etwa über die Zusammensetzung des Ensembles. Es werden auch andere Ensembles auf der Bühne zu sehen sein, nicht nur unsere Schauspieler:innen.

Stichwort Diversität: Sie haben elf Schauspieler:innen, also drei festangestellte weniger. Nancy Mensah-Offey kommt von den Kammerspielen München und Manuel Herwig vom Theater Kanton Zürich. Gleichzeitig haben Sie fünf Schauspieler:innen nicht übernommen. Warum diese Zusammensetzung?

So können wir mehr mit Gästen arbeiten. Sie bringen Bewegung ins Ensemble. Es gilt nicht das Prinzip, dass immer die Hauptrollen mit Gästen von aussen besetzt werden. Auch, aber nicht nur. Manche Gäste, wie Heidi Maria Glössner, kommen mehrmals.

So wird das Ensemble diverser, auch mit den Gästen.

Gleichzeitig kooperieren Sie mit dem Komiktheater, einem Theater für Menschen mit Beeinträchtigung aus St. Gallen.

Wir planen eine langfristige Zusammenarbeit, denn es ist mir auch wichtig, dass Menschen mit Beeinträchtigung auf unserer Bühne stehen. Zudem tourt das Komiktheater, auch der «Sturm» wird durch die Region touren. Das alles ist nachhaltiger.

Stichwort Nachhaltigkeit: Das scheint Ihnen ein Herzensthema zu sein?

Es interessiert mich wirklich sehr. Ich war in meiner Jugend aktiv bei Greenpeace und bin mit einem Ingenieur für nachhaltige Energien verheiratet. Ausserdem komme ich vom Bauernhof und merke sehr deutlich, wo Begebenheiten nicht mehr stimmen. Es ist mir ein grosses Anliegen, dieses Theater nachhaltiger zu machen.

Das Wort ist in aller Munde, aber es wird oft unterschiedlich verstanden. Wie verstehen Sie es?

Es meint, ressourcenschonend arbeiten zu wollen, in jeder Beziehung. Das fängt bei der Frage an, ob man sich einen Flug leistet oder nicht. Aber es meint auch: Wie gehen wir mit den Ressourcen unserer Mitarbeitenden um? Wie lange zeigen wir Inszenierungen? Vor 15 Jahren wurde es Mode, dass Intendanten immer mehr Premieren heraushauten. Das wurde wie ein Wettbewerb. Vorher hatten wir acht, neun Wochen Probezeit, heute sind wir bei maximal sechs. Das ist kein nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen der Mitarbeitenden.

Im Moment zeigen wir viele Arbeiten kaum zehn Mal. Und dann landen sie oft in der Tonne.

Mit Koproduktionen kann man die Lebensdauer einer Inszenierung verlängern, gleichzeitig muss man aufpassen, dass nicht Stellen verschwinden.

Sie kooperieren auch mit dem Kurtheater Baden und dem Theater Marie und führen die Zusammenarbeit mit Jungspund fort. Was bedeutet das? Inhaltlich und finanziell?

Es hat viel gekostet, in jeder Beziehung, die Kooperation mit Jungspund, dem Theaterfestival für junges Publikum, aufzubauen. Das gebe ich nicht auf. Dafür inszeniert Jonas Knecht, der das Festival zusammen mit Gabi Bernetta ins Leben gerufen hat, Mark Haddons «Supergute Tage»: Eine grosse Produktion und eine, die auch Erwachsene mit Gewinn sehen. Zusätzlich suchen wir neue Gefässe und Formate, um uns mit Partnern in der Region zu vernetzen, mit ihnen zu produzieren, Produktionen auszutauschen. Das hat vorher so nicht stattgefunden. Das reizt mich sehr.

Warum?

Es geht wieder um Nachhaltigkeit. Tatsächlich sind Kooperationen eine Win-Win-Situation. Weil Ressourcen besser genutzt werden können, und wir mehr Publikum mit einer Produktion erreichen. Das ist die Hauptidee. Aber wir haben auch den Leistungsauftrag, die Region zu bespielen. Wir können unsere Produktionen auch in Baden oder der Tuchlaube Aarau zeigen, die mit dem Theater Marie kooperiert, das wiederum selbst in seiner Region unterwegs ist. So kommen künstlerisch interessante Verbindungen zustande.

Das ist ein Netzwerk, das Sie mitbringen und weiter aufbauen…

Genau. Und wir haben es für die erste Spielzeit mal auf die Schweiz bezogen. Aber ich will schon auch die Bodenseeregion besser vernetzen, mit Karin Becker vom Theater Konstanz oder mit Stephanie Gräve im Vorarlberger Landestheater in Bregenz zusammenarbeiten. Das wäre die nächste Stufe.

Ebenfalls aus Gründen der Nachhaltigkeit arbeiten Sie in der Lokremise mit einem Einheitsbühnenbild. Das ist eine sehr konkrete Massnahme, die man auch sehen wird.

Das stimmt.

Aber man kann nicht sagen: Das Theater soll sich verändern, aber ohne Preis.

Wir gehen es jetzt mal an und nutzen es kreativ. Dafür müssen wir Rahmen schaffen für die Ausstatter:innen, dass sie die Aufgabe nicht nur als Begrenzung empfinden. Das ist viel Arbeit, aber es lohnt sich. Da geht gerade was.

Was machen Sie konkret? Sehen alle drei Produktionen gleich aus?

Wir bauen jetzt unsere Bühnenbilder über podest-ähnliche Elemente auf, auch im Grossen Haus. Das sieht das Publikum nicht. In der Lok aber haben wir für «Das Fest», «Supergute Tage» und für das «Sturm»-Projekt ein modulares Einheitsbühnenbild. Das kann man neu zusammensetzen und so verschiedene Raumsituationen generieren. Das sieht das Publikum. Wir müssen schon umbauen, aber es ist viel weniger Arbeit und braucht auch weniger Stauraum.

Es scheint, Sie verstärken das Kindertheater?

Wir konnten noch eine Stelle dafür in der Leitung schaffen und sie mit Anja Horst besetzen. Dadurch ist mehr möglich. Neben Wiederaufnahmen gibt es zwei mobile Produktionen: «Der Wolf kommt nicht» und «Die letzte Geschichte der Menschheit». «Die Feuerrote Friederike» ist eine Koproduktion mit dem Musiktheater, eine Oper für Kinder in einem Akt. Geschrieben für Schauspieler:innen, die auch singen können. Zudem spielt das Sinfonieorchester mit, der Kinder- und Jugendchor singt.

Ich finde es toll, dass wir so etwas spartenübergreifendes für das junge Publikum machen.

Wir planen schon einige Arbeiten als Koproduktion zwischen Schauspiel und Oper. Aber die grossen spartenübergreifenden Projekte kommen erst in zwei Jahren, denn das Programm der Oper stand schon, als ich anfing zu planen.

Wenn jemand Sie fragen würde: «Frau Brüesch, was ändert sich mit Ihnen am Theater St. Gallen?», was würden Sie antworten?

Jonas Knecht hat eher ein poetisches, bildhaftes Theater verfolgt, ich interessiere mich für die Tiefe der Inhalte, für gesellschaftliche, politische Themen. Mich interessieren auch Regisseur:innen, die es in diese Tiefe zieht. Es ist nicht unbedingt näher am Text, aber an den Inhalten, den Themen. Zudem arbeite ich sehr genau am Material und nicht über das Material hinweg.

 

 

Das SCHAUSPIEL St. Gallen im Spielplan 2023/24

  • «Das Fest», nach dem Film von Thomas Vinterberg, Mogens Rukov: Bei der 60-Jahrfeier des Vaters deckt der Sohn auf, dass er von ihm sexuell missbraucht wurde. In der Tiefe geht es um die Stärkung der Identität. Wie verteidigt das Individuum Wahrheit in einer Gesellschaft, die lieber nicht so genau hinschauen möchte.
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  • «Die Ärztin», Robert Icke. Überschreibung von Schnitzlers «Professor Bernhardi». Das Stück um Identitätspolitik schlechthin.
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  • «Gott», Ferdinand von Schirach: Wem gehört das Leben, wem das Sterben? Wo ist meine Identität, wem gehört sie, wenn ich sterbe?
    Themen: Sterbehilfe beleuchtet aus der Sicht der Justiz, Religion und Medizin.
  • «Der Sturm», Shakespeare, Koproduktion mit dem Komiktheater für Menschen mit Beeinträchtigung.
    Thema: Diversität. Wer steht auf der Bühne und repräsentiert Gesellschaft?
  • «Black Rider», Tom Waits, Robert Wilson, William S. Burroughs: Wiederaufnahme mit Chor, der wegen Corona bei der Premiere verboten war.
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  • «Fischer Fritz», Raphaela Bardutzky: Der alte Fischer hatte einen Schlaganfall, will aber nicht ins Altersheim. Sein Sohn lebt jetzt in der Stadt. Also schaut eine Arbeitskraft aus dem Osten nach ihm.
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  • «Hedda Gabler», Henrik Ibsen: Hedda opfert ihre Träume für das sichere, gute Leben.
    Themen: Was macht Erfolg aus? Welche Handlungen sind möglich, wenn die Gesellschaft vorgibt, was aus uns werden kann, werden darf?
  • «Extrawurst», Dietmar Jacobs, Moritz Netenjakobs, im Rahmen der St. Galler Festspiele.
    Themen: Identitätskonflikte komödiantisch zugespitzt.