Annette Windlin ist eine jener Personen, die einen sofort ansteckt: mit ihrer Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen und fürs Theater – und auch mit ihrem Kampfgeist. Aufgeben, Resignieren, in Ohnmacht fallen – das war für die Theatermacherin nie eine Option. Das sei einfach ihr Naturell, meint sie. Die eigene Erfahrung mit behördlicher Willkür und ihr langer Atem mit einer Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht bescherten ihr viel hilflose Wut, ein Gefühl ausgeliefert zu sein und durchaus auch Rachegelüste. Und schliesslich, mit Abstand zur eigenen Erfahrung, fand sie den Stoff für ihr neustes Stück: eine Wiederentdeckung der Figur Claire Zachanassian – ja von «Hunderten von Claire Zachanassians».
Anja Nora Schulthess: «Alles begann mit einem Gefühl der Ohnmacht», heisst es in der Begleitpublikation zum Stück. Was interessiert Sie an der Ohnmacht?
Anette Windlin: Mich interessierte diese Frage: Wann bricht die Ohnmacht einen Menschen, und wann oder warum beginnt er zu kämpfen. Das war der Anfang. Wir haben im Team begonnen, zu diesem Thema zu recherchieren und ich habe verschiedene Leute interviewt, von denen ich wusste, da gibt es eine solche Geschichte. So habe ich viele sehr berührende Schicksale kennengelernt. Und natürlich spielte meine eigene Geschichte auch eine Rolle.
Und wie kamt ihr auf Dürrenmatt?
Das Ziel war ursprünglich ein Solo zu schreiben, das heisst eine fiktive Biografie zusammenzustellen, die ich gespielt hätte. Wir hatten schon sehr viel Material. Und plötzlich sagte jemand: «Ein solches Stück gibt es schon.» Das wäre mir gar nie in den Sinn gekommen, ich hätte nie daran gedacht, den «Besuch der alten Dame» zu machen, einfach weil es ein gutes Stück ist, oder man das kennt, oder weil dann die Leute kommen.
Die Solo-Idee ist dann geblieben.
Es war von Anfang an klar, dass es ein Solo geben würde. Da ich aber vom Musiker Christian Wallner begleitet werde, der auch einzelne Textpassagen übernimmt, ist es nicht ganz solo, und darüber bin ich sehr froh. Dürrenmatts Stück hat uns sehr gefallen – immer davon ausgehend, es solo zu spielen. Ich habe dann mit dem Diogenes Verlag verhandelt, in einem langen Gespräch unsere Beweggründe dargelegt und von dieser speziellen Form erzählt, wenn eine Schauspielerin während des Spiels in mehrere Rollen schlüpft. Dieses Stück hat 34 Rollen und es war ja klar, dass es eine Bearbeitung brauchen würde. Schlussendlich haben wir die Rechte bekommen. Der Regisseur, Dominik Müller, und ich haben dann gemeinsam eine Solofassung geschrieben.
Claire Zachanassian, früher «Kläri» Wäscher, wurde mit 17 schwanger von Alfred Ill. Er verliess sie, leugnete das Kind vor Gericht, bestach Zeugen, verbreitete Lügen über sie und stempelte sie als Hure ab. Jahre später rächt sie sich und fordert Alfred Ills Tod. Um wessen Ohnmacht geht es hier?
Da ist lauter Ohnmacht. Da ist die Ohnmacht von Claire Zachanassian auf der einen Seite, eine massive Ohnmacht, und dann gibt es die Ohnmacht von Alfred Ill, der irgendwann kapituliert und schlussendlich stirbt. Das kam uns sehr interessant vor. Auch wenn ich etwa 14 Rollen spiele, wird das Stück stark aus der Sicht von Claire Zachanassian erzählt. Das Stück beginnt in Capri. Claire Zachanassian sitzt auf dem Sarg von Alfred Ill und erzählt ihre Geschichte und wie das war, als sie nach Güllen kam.