Interview mit Annette Windlin
«Wann wehre ich mich und wann räche ich mich?»
Seit über 30 Jahren ist Annette Windlin als Regisseurin, Theaterpädagogin und Schauspielerin tätig. Nun spielt sie Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» als Solo. Im Kleintheater Luzern, wo das Stück in diesen Tagen Premiere feiert, sprach sie über ihr Ausgeliefert-Sein, die Transformation persönlicher Erfahrung, den Reiz der Kleintheater-Szene und die Macht von Legenden.
Luzern, 28.09.2022
Annette Windlin ist eine jener Personen, die einen sofort ansteckt: mit ihrer Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen und fürs Theater – und auch mit ihrem Kampfgeist. Aufgeben, Resignieren, in Ohnmacht fallen – das war für die Theatermacherin nie eine Option. Das sei einfach ihr Naturell, meint sie. Die eigene Erfahrung mit behördlicher Willkür und ihr langer Atem mit einer Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht bescherten ihr viel hilflose Wut, ein Gefühl ausgeliefert zu sein und durchaus auch Rachegelüste. Und schliesslich, mit Abstand zur eigenen Erfahrung, fand sie den Stoff für ihr neustes Stück: eine Wiederentdeckung der Figur Claire Zachanassian – ja von «Hunderten von Claire Zachanassians».
Anja Nora Schulthess: «Alles begann mit einem Gefühl der Ohnmacht», heisst es in der Begleitpublikation zum Stück. Was interessiert Sie an der Ohnmacht?
Anette Windlin: Mich interessierte diese Frage: Wann bricht die Ohnmacht einen Menschen, und wann oder warum beginnt er zu kämpfen. Das war der Anfang. Wir haben im Team begonnen, zu diesem Thema zu recherchieren und ich habe verschiedene Leute interviewt, von denen ich wusste, da gibt es eine solche Geschichte. So habe ich viele sehr berührende Schicksale kennengelernt. Und natürlich spielte meine eigene Geschichte auch eine Rolle.
Und wie kamt ihr auf Dürrenmatt?
Das Ziel war ursprünglich ein Solo zu schreiben, das heisst eine fiktive Biografie zusammenzustellen, die ich gespielt hätte. Wir hatten schon sehr viel Material. Und plötzlich sagte jemand: «Ein solches Stück gibt es schon.» Das wäre mir gar nie in den Sinn gekommen, ich hätte nie daran gedacht, den «Besuch der alten Dame» zu machen, einfach weil es ein gutes Stück ist, oder man das kennt, oder weil dann die Leute kommen.
Die Solo-Idee ist dann geblieben.
Es war von Anfang an klar, dass es ein Solo geben würde. Da ich aber vom Musiker Christian Wallner begleitet werde, der auch einzelne Textpassagen übernimmt, ist es nicht ganz solo, und darüber bin ich sehr froh. Dürrenmatts Stück hat uns sehr gefallen – immer davon ausgehend, es solo zu spielen. Ich habe dann mit dem Diogenes Verlag verhandelt, in einem langen Gespräch unsere Beweggründe dargelegt und von dieser speziellen Form erzählt, wenn eine Schauspielerin während des Spiels in mehrere Rollen schlüpft. Dieses Stück hat 34 Rollen und es war ja klar, dass es eine Bearbeitung brauchen würde. Schlussendlich haben wir die Rechte bekommen. Der Regisseur, Dominik Müller, und ich haben dann gemeinsam eine Solofassung geschrieben.
Claire Zachanassian, früher «Kläri» Wäscher, wurde mit 17 schwanger von Alfred Ill. Er verliess sie, leugnete das Kind vor Gericht, bestach Zeugen, verbreitete Lügen über sie und stempelte sie als Hure ab. Jahre später rächt sie sich und fordert Alfred Ills Tod. Um wessen Ohnmacht geht es hier?
Da ist lauter Ohnmacht. Da ist die Ohnmacht von Claire Zachanassian auf der einen Seite, eine massive Ohnmacht, und dann gibt es die Ohnmacht von Alfred Ill, der irgendwann kapituliert und schlussendlich stirbt. Das kam uns sehr interessant vor. Auch wenn ich etwa 14 Rollen spiele, wird das Stück stark aus der Sicht von Claire Zachanassian erzählt. Das Stück beginnt in Capri. Claire Zachanassian sitzt auf dem Sarg von Alfred Ill und erzählt ihre Geschichte und wie das war, als sie nach Güllen kam.
Warum Claires Zachanassians Perspektive?
Natürlich ist es interessant, die Frauenperspektive einzunehmen. Sie wird ja oft verteufelt. Natürlich ist es unsäglich zu sagen: Ich gebe dir eine Milliarde, aber bring den um. Das ist verwerflich, klar. Auf der anderen Seite bereitet die Verletztheit dieser Frau den Boden für ihre Rache. Und dass sie die schlimmstmögliche Konsequenz zieht, ist natürlich eine künstlerische Überhöhung von Dürrenmatt.
Es geht auch um ein Verständnis für Claire Zachanassian?
Ja, der Fokus liegt schon auch darauf, zu verstehen, warum diese Frau so kompromisslos zurückschlägt.
Man muss sie nicht mögen – sie ist auch oft sehr kalt, aber es gibt Momente, wo sie sehr warm ist – und mir wäre es schon wichtig, dass man ihr Handeln nachvollziehen kann. Auch wenn das Pfand in dieser künstlerischen Überhöhung natürlich massiv ist.
Wie finden Sie einen Ausdruck für Ihre eigenen Erfahrungen?
Ausgangspunkt für meine Projekte waren oft «eigene, persönliche» Themen, etwas, was mich berührt, etwas, das «aufploppt», das mit meinem Leben zu tun hat, das dann nachher natürlich transformiert und aus einer Distanz auf die Bühne kommt.
Da gibt es noch einmal eine Art Verdoppelung: Wenn man eine Ohnmachtserfahrung künstlerisch zum Ausdruck bringt, ist es doch auch eine Form von Selbstermächtigung.
Sicher, mein eigenes Erlebnis ist jetzt schon weit weg, es ist verarbeitet, es ist erledigt. Aber diese Erfahrung hilft mir, dieses Gefühl von Ohnmacht zu spüren als Schauspielerin, es in einem anderen Kontext wiederherstellen zu können.
Kann man im Moment der Erfahrung einer Ohnmacht selbst überhaupt künstlerisch tätig sein?
Ich persönlich würde sagen, im Moment der Ohnmacht nicht, weil Ohnmachtsgefühle machen mich wütend, fassungslos, es ist ein körperliches Gefühl. In so einer Situation verliere ich die Distanz, die Übersicht, und kreativ fühle ich mich dann auch nicht. Ich bin sehr froh, dass ich in so einer Ohnmachtssituation die Kraft fand, mich zu wehren. Natürlich gibt es in diesem Prozess auch Momente, wo du kaputt bist, müde bist und denkst: Lohnt sich das überhaupt?
Wofür lohnt es sich zu kämpfen?
Es hat immer etwas mit Gerechtigkeitssinn zu tun. Das ist auch bei vielen Recherchen und Interviews herausgekommen: Neben den persönlichen Geschichten, der persönlichen Konstitution einer Person ist der Sinn für Gerechtigkeit sehr zentral.
Annette Windlin
absolvierte nach der Dimitrischule eine klassische Ausbildung zur Schauspielerin und später zur Theaterpädagogin an der Hochschule für Musik und Theater ZHdK Zürich. Seit mehr als 30 Jahren gestaltet sie als Schauspielerin, Regisseurin, Theaterpädagogin und als Theaterautorin das Theaterleben der Zentralschweiz mit. Sie hat unterschiedlichste Projekte mit diversen professionellen und Laien-Theatergruppen verwirklicht. Seit 2013 realisiert sie als künstlerische Leiterin und Regisseurin mit ihrem Verein Big Bang vermehrt Grossprojekte. Sie ist Mitglied von t. Zentralschweiz und engagiert sich stark in der Kulturpolitik.
2008 wurde Annette Windlin mit dem Anerkennungspreis des Kantons Schwyz und 2010 mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet. 2021 erhält sie ein Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung.
Bild: Beat Allgaier
Wie kamen Sie zum Theater?
Ich habe schon immer gespielt, schon als kleines Kind habe ich immer Zirkus gemacht, die ganze Nachbarschaft zusammengetrommelt. Zuerst absolvierte ich aber das Lehrerseminar. Weil man muss ja etwas «Richtiges» lernen, das war die Bedingung meiner Eltern. Dann war ich an der Dimitrischule. Später habe ich die Lust an der Sprache und am Erzählen entdeckt und eine klassische Schauspielausbildung absolviert. Vom Schauspiel kam ich schnell zur Regie. Während meines New York-Aufenthaltes habe ich dann gemerkt: Man kann Sachen auch etwas grösser denken – die kochen auch nur mit Wasser. Ich habe dann ein wenig grösser gedacht und so sind immer grössere Projekte dabei herausgekommen.
Was ist der Reiz an der Kleintheater-Szene im Gegensatz zu grösseren Häusern?
Ich finde es als Schauspielerin extrem schön, nahe an den Leuten zu sein – das Publikum in der ersten Reihe ist oft kaum einen Meter weg, ich liebe das. Kleintheater sind wichtige Orte. Gerade in kleineren Gemeinden sind das Häuser, wo Leute auch deshalb hingehen, weil es nicht so weit weg ist, weil es ihnen da wohl ist und weil man sich kennt.
Gerade das ist wichtig: Geschichten zu erzählen an einem Ort, zu dem Leute eine Beziehung haben.
Man ist in so einem intimen Setting natürlich auch näher an den Reaktionen des Publikums. Wie erleben Sie das?
Wenn du auf der Bühne stehst, gibt es immer einen Austausch zwischen dir und dem Publikum. Das kann sehr unterschiedlich sein, man kann das nicht immer einschätzen. Manchmal ist das Publikum ganz ruhig und du denkst: «Jesses, das interessiert die gar nicht.» Das muss man dann ausblenden. Dabei waren sie vielleicht einfach gebannt. Es ist gut, im Austausch zu sein, aber was nicht passieren darf, ist, dass man sich einem Publikum ausliefert, dass man abhängig wird von einer Reaktion. Du musst wahnsinnig bei dir bleiben und trotzdem mit dem Publikum zusammen «schnuufe.» Natürlich gibt es Irritationen. Aber ich denke, dass die Leute nicht da sind, um mich zu beurteilen. Sie wollen eine Geschichte erzählt bekommen. Das hat man ja als Kind schon gerne: Jemand erzählt eine Geschichte und ich darf zuhören – das ist eigentlich die Situation.
Annette Windlin in Dürrenmatts «Besuch der alten Dame». Bild: Beat Allgaier
Ihr nächstes grosses Projekt ist 2024 die Jubiläumsproduktion «Willhelm Tell» für die Tellspielgesellschaft Altdorf. Was interessiert Sie an dieser aufgeladenen Legende?
Interessanterweise ist diese recht nahe am Ohnmachtsthema. Das Konzept zu diesem Projekt ist jedoch weit vor dieser Ohnmachtserfahrung entstanden. Tell hat natürlich zu tun mit Krieg und Unterdrückung, jetzt noch aktueller geworden durch den Ukraine-Krieg. Auch im Tell geht es um die Frage: Wann wehre ich mich und wann räche ich mich? In Schillers Drama gibt es einen fünften Akt, der selten gespielt wird. Da gibt es Parricida, der auf der Flucht ist, weil er seinen Onkel, König Albrecht, der ihm sein Erbe vorenthalten hatte, ermordet hat. Auch Tell hat jemanden ermordet, den Unterdrücker Gessler. Im fünften Akt verhandeln die beiden ihre Schuld, und Tell sagt: Du bist ein Mörder, ich nicht, ich habe mich nur verteidigt. Dieser Punkt hat uns interessiert: Wer sagt denn eigentlich, was Gegenwehr und was Rache ist?
Sie haben auch den Morgarten-Stoff inszeniert. Warum reizen Sie Legenden?
Wir leben von Legenden, Geschichten, die erzählt werden. Insofern lohnt es sich, diese zu erzählen. Und wir fanden es auch interessant, diese Legende als Frauen zu erzählen.
Darum geht es wohl: Wer erzählt die Legenden, wie werden sie erzählt, wie vereinnahmt und mit welchem Überbau ausgestattet?
Genau. Tell ist ja von links bis rechts vereinnahmt worden, jetzt im Coronakontext wieder von verschiedenster Seite. Bei Morgarten genauso: Die mutigen Schweizer, die sich gegen den übermächtigen Feind verteidigten. Legenden sind ja immer je nach gesellschaftspolitischen Hintergründen benutzt worden. Es geht uns mit dem Tell nicht um eine feministische Sicht auf den Stoff. Es interessiert mich gar nicht, diese Geschichte konzeptionell feministisch zu erzählen. Aber bei uns werden doch einige wichtige Figuren von Frauen gespielt.
Inwiefern haben Theatermachen und Geschichtenerzählen etwas Kämpferisches?
Es gibt schon Aussagen, die ich auf der Bühne nie machen würde. Insofern muss das, was ich als Regisseurin oder Schauspielerin auf der Bühne mache, mit meiner Haltung und Überzeugung zu tun haben. Aber ich glaube nicht, dass Theater agitativ relevant ist. Es ist primär etwas, das man geniessen kann. Es geht darum, eine clevere, intelligente Geschichte zu erzählen, die zum Denken, Lachen, Weinen anregt, die einen aufregt. Aber nicht, weil man aufregen will, sondern einfach, weil unterschiedliche Leute ins Theater kommen und das ist gut so. Diese Auseinandersetzung interessiert mich.
«Der Besuch der alten Dame»
Mittwoch, 28. September (Premiere), Freitag, 30. September, und Sonntag, 1. Oktober, Kleintheater Luzern.
28. und 29. Oktober, Chupferturm Schwyz
5. November, Altes Kino Mels
18. und 19. November, Theater Duo Fischbach, Küssnacht
14. und 15. Dezember, Theater URI Altdorf
27. und 28. Januar, ThiK Theater im Kornhaus Baden
2. März bis 4. März, Burgbachkeller Zug
5. Mai und 6. Mai, Chäslager Stans