In «Gilgamesh Origin» verhandeln Künstler:innen aus der Schweiz und dem Westjordanland den 3500 Jahre alten Königs-Epos.

In «Gilgamesh Origin» verhandeln Künstler:innen aus der Schweiz und dem Westjordanland den 3500 Jahre alten Königs-Epos.

Bild: Rob Lewis

Schweiz-Palästina

«Am Ende geht es ums Theater – diese universale Sprache, die wir alle teilen»

In «Gilgamesh Origin» verhandeln Künstler:innen aus der Schweiz und dem Westjordanland den 3500 Jahre alten Königs-Epos. Archaische Themen wie Liebe, Macht und Angst mischen sich mit persönlichen Geschichten der Schauspieler:innen. Die Koproduktion ist eine kluge und lustvolle Auseinandersetzung mit Projektionen und äusseren Bildern. Ein Probe-Besuch zeigt, wie das geht: Kommunikation über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg.

Von Jana Avanzini

Bern, 07.06.2022

7 min

Textprobe, knapp eine Woche vor Premiere, ein lichtdurchfluteter Raum in einem Atelier im Progr in Bern. Sandfarbene schwere Tücher hängen an Seilen von der Decke herunter und sind zu einem sorgfältigen Wirrwarr drapiert. Eine E-Laute lehnt an der Fensterfront, elektronische Effektgeräte und ein unscheinbarer kleiner Verstärker, der ab und zu abrupt ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich gibt. «Nicht so laut!», «Don’t play with my life!», ruft Domink Gysin und fasst sich ans Ohr. Er ist einer der sechs Schauspieler:innen aus der Schweiz und Palästina, die den 3500 Jahre alten Gilgamesh-Epos als Ausgangslage nehmen, um von den Dingen zu erzählen, die zeitlos sind: Macht, Liebe, Projektionen, Freundschaft, Angst.

«Bist Du jetzt Gilgamesh?»

Regisseur und Co-Regisseur, Übersetzerin und Dramaturgin sitzen mit aufgeklappten Laptops vor den Schauspieler:innen, die den Text sitzend und mit viel Papier in den Händen einsprechen. Dabei wechseln nicht nur ständig die Sprachen – englisch, deutsch, arabisch – sondern auch die Rollen werden getauscht. «Bist du jetzt Gilgamesh?» 

Der Text ist ein vielfältiges Geflecht aus dem Gilgamesh-Epos und aus Erzählungen der Schauspieler:innen, die in persönlichen Geschichten das zur Sprache bringen, was der alte Stoff in ihnen an archaischen Themen weckt. Etwa Machtstrukturen im Theaterbetrieb. Warum sind die Frauenfiguren in Gilgamesh und anderswo dermassen hölzern und ohne Profil? Und sind wir denn wirklich über die Stereotypen Mutter, Prostituierte, Göttin hinausgelangt?, fragt etwa Anna-Katharina Müller enerviert.

Verkopft ist das alles nicht, im Gegenteil. Die Stimmung zwischen den Schauspieler:innen ist ausgelassen, es wird gelacht, gerufen, wild gestikuliert. Könnte man das Text-Skript der Dramaturgin nicht mitverfolgen – es ist in drei Spalten gegliedert: Englisch, Deutsch, Arabisch – man wüsste oft nicht, ob das, was die Schauspieler:innen miteinander reden oder sich zurufen, Teil des Bühnentexts ist oder Off-the-Record. 

Und diese Vermengung von Stoff und Meta-Stoff ist dem Stück Programm. Passagen werden noch während der Probe gestrichen, Sätze umformuliert. «It’s weird, it sounds weird», sagt die Schauspielerin Yasmin Shalaldeh beim Sprechen einer Textpassage und meint damit die arabische «old language.» Die Sprachen, die sich sowohl in Gestus, Rhythmus und Spektrum der Tonlagen stark unterscheiden, lagern sich stellenweise übereinander, vermischen sich und werden zu einem herrlich unverständlichen Stimmenwirrwarr und Singsang. 

In «Gilgamesh Origin» verhandeln Künstler:innen aus der Schweiz und dem Westjordanland den 3500 Jahre alten Königs-Epos.

In «Gilgamesh Origin» verhandeln Künstler:innen aus der Schweiz und dem Westjordanland den 3500 Jahre alten Königs-Epos.

Bild: Rob Lewis

Sound und Timing

«Whoa, Whoa, Bang, Bang!», ruft der Schauspieler Shebly Al-Baw, der sich abrupt vom Stuhl erhoben hat und in die Luft kickt, worauf ein lauter Knall aus dem Verstärker durch den Raum wummert. «Ah! Nicht so laut!»

Zuständig für Musik und Sound ist Wael Sami Elkholy, der in Dubai aufwuchs und in Bern den Master Komposition und Théatre Musical absolvierte. Für die Produktion hat er Musik und Sounds produziert – ein Soundteppich aus Geräuschen und Klängen, die an traditionelle arabische Musik anknüpfen, sanftes Glockenspiel, Flöten, dann wieder noise-artige Effekte, die auch mal abrupt in ein durchdringendes lautes Geschrei ausarten, bei dem manche:r im Raum zusammenzuckt. 

Auch Livemusik wird man zu hören bekommen, E-Laute und Gesang. Dieser Fokus auf Sound und Timing, so viel kann man bereits sagen nach diesem Probe-Besuch, ist eine der augenfälligen Stärken dieser Produktion. Der Klang der verschiedenen Sprachen an sich, deren Vermengung, die unterschiedlichen Tempi, der Sprechgesang und die Vermengung der Stimmen mit Musik sind schon an sich ein Hörgenuss. Dass auch laut gerufen und geschrien wird, ist nur folgerichtig. Schliesslich geht es hier um existenzielle Dinge: Liebe, Eifersucht, Macht, Angst, Gewalt.

Spielerische Leichtigkeit und ernsthafter Pathos

Die Szene «Gilga hat Angst» wird nun auf der im Atelier noch improvisierten Bühne geprobt. Kostüme werden übergezogen, lange weisse Perücken, weisse Geweihe, ein Fellüberwurf. Gedoppelte und gespiegelte Mischwesen zwischen Mensch, Gott, Tier, Mann und Frau. Diese Kostüme wirken genauso fremd und verrückt wie das für unsere Ohren fremde Arabische, die alte Sprache, der Ur-Stoff. «Think more of Macbeth. Shakespeare-Haltung. Take it seriously, but with a lot of playful joy», wirft Regisseur Dennis Schwabenland ein.

Diese Gleichzeitigkeit von spielerischer Leichtigkeit und pointierter Ernsthaftigkeit ist dem ganzen Team anzumerken. Das Spiel der Schauspieler:innen ist sehr physisch. Es wird getanzt, gekämpft, gesprungen. Man vertraut hier auch auf Pathos, ohne diesen andauernd ironisch zu brechen und persiflieren zu müssen. Eine Haltung, die man in vielen zeitgenössischen Theaterstücken derzeit vermisst. In der Grossen Halle der Berner Reitschule, in der das Stück Premiere feiert, dürften sich durchaus Opern-Momente einstellen – im positiven Sinn selbstredend. Dann nämlich, wenn die Sprache unverständlich wird, sich Lücken in Erzählung, Handlung und Text ereignen und man gezwungen ist, den Körpern, der Mimik und Gestik und dem konzentrierten Sound zu folgen.

Szene aus dem Theaterstück Gilgamesh Origin.

Realer Austausch

Dass diese fragmentierten Texte, die Fremdheit der jeweiligen Sprache, die Thematik kultureller Projektionen durchaus zuträglich sind, zeigte an der Probe eine eindrückliche Szene. Wenn der kräftig gewachsene, imposante Moaiad Abd al-Samad mit langem Bart, bekleidet mit einer Art weisser Fell-Boa und Spitzenhandschuhen, vor das Publikum tritt und sachte seinen Monolog in Arabisch spricht (bei der Probe fehlen einem noch die Untertitel), so kommt man nicht darum herum, auf die eigenen Assoziationen zu achten, die mit Projektionen und medial geprägten Bildern enger verwoben sind, als wir uns als Europäer:innen vielleicht zugestehen wollen. Trägt er vielleicht Sprengstoff unter dem weissen Gewand? Ist seinem sanften einlullenden Singsang zu trauen, und warum bewegt er sich so langsam?

«Danke, dass ihr da seid»

Gerade wegen solcher medial geprägten Bilder und Vorstellungen übers Westjordanland und Palästinenser:innen sei es so wichtig, dass es solche realen Treffen und einen realen Austausch gebe, sagt der Schauspieler nach der Probe im Gespräch. Alle sind sich einig, dass es sehr wichtig gewesen sei, in Ramallah zu proben, den Ort und die Leute kennenzulernen.

«Zuerst hatte ich Angst», erzählt Dominik Gysin, «ich hatte wirklich schlicht Angst, dass mir etwas passiert.» Die Erfahrung sei aber für alle sehr positiv gewesen. Viele Palästinenser:innen haben sich nur schon dafür bedankt, dass wir überhaupt nach Ramallah gekommen sind: «Danke, dass ihr da seid. Das ist wichtig für uns.» So erzählt die Dramaturgin Magdalena Nadolska. «Am Ende», sagt Moaiad Abd al-Samad – die Übersetzerin übersetzt für mich in Englisch – «geht es aber auch einfach darum, dass Leute miteinander Theater machen. Und um diese universale Sprache, die wir alle teilen, egal woher wir sind und welche Sprache wir sprechen.»

Szene aus dem Theaterstück Gilgamesh Origin.

Gilgamesh Origin
D
onnerstag, 9. Juni 2022, Premiere: 20 Uhr, Reithalle, Bern.
Weitere Vorstellungen bis 18. Juni.
Im September und Oktober folgen Aufführungen im Roxy Birsfelden und im Theater am Gleis in Winterthur, später in Ramallah.
2022/2023 ist eine Tour durchs Westjordanland und verschiedene arabische Länder geplant.